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Doktor Sebastians kleiner Behandlungsraum war durch einen weißen
Vorhang von dem langen Korridor mit der Reihe der wartenden Patienten
getrennt und von einer kleinen Tür mit der Aufschrift operation
theatre. Immer wieder einmal wurde der Vorhang vorsichtig beiseite
geschoben, schaute ein Patient mit leidender Miene in den Raum. Den
Doktor schien dies nicht zu beirren. Ich hatte als Arzt einen "Inder"
erwartet: einen Pykniker, voll, rundlich, von kleiner Statur, mit
dem breiten, gutmütigen Gesicht des Menschenfreundes, wissend
in seinem Hara ruhend, erfahren als Mensch und Arzt.
Aber vor mir saß ein angespannter, hagerer Mann mit dem scharfen,
gut geschnittenen Profil des europäischen Intellektuellen und
der Kühle seines Verstandes. Und auch der Name schien ihn als
Europäer auszuweisen. War er ein angestammter Kerala-Mann, oder
floß tatsächlich ein Rest portugiesischen Bluts der Kolonisatoren
in seinen Adern?
"Wenn Sie Hilfe benötigen, kommen Sie ins FATIMA HOSPITAL.
Es hat Tag und Nacht geöffnet. Wenn Sie möchten, besorge
ich Ihnen hier im Haus ein Zimmer. Das ist billiger, als im Hotel
zu wohnen."
Als ich sagte, ich wäre auf der Suche nach einem Bungalow mit
einem kleinen Blumengarten, erwiderte er: "Ich besorge Ihnen
ein Haus! Hier ist meine Anschrift!", und er schrieb seine Pri-vatadresse
auf ein Rezeptblatt und reichte es mir. Dann fügte er hinzu:
"Eine junge deutsche Ärztin hat längere Zeit bei uns
gearbeitet. Sie studiert Tropenmedizin. Vor einigen Tagen ist sie
nach Mysore gereist."
"Ich hätte mich gern einmal mit ihr unterhalten!" sagte
ich, "kehrt sie zurück?"
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"Sie hat einen Flug nach Deutschland gebucht."
Ich bedauerte es.
"Im St. Vincent Convent arbeiten zwei Krankenschwestern, die in
Deutschland gelernt haben. Sie sprechen gut deutsch." Und wieder
reichte er mir ein Rezeptblatt - diesmal mit den Tele-fonnummern der
beiden Frauen.
Hätte ich ihn um einen Partner für meine einsamen Nächte
gebeten, würde er mir seine Tochter empfohlen haben. Er würde
mir alles vermitteln, was ich brauchte, und er würde zu seinem
Wort stehen, davon war ich überzeugt. Aus irgendeinem geheimnisvollen
Grund war das "Helfen-wollen" wie mit einem glühenden
Eisen in sein Gehirn gebrannt. Das mußte irgend-wann und aus irgendeinem
besonderen Anlaß geschehen sein. Oder war es allein ein "Helfen-müssen",
das ihn so handeln ließ, ein kategorischer Imperativ, die unbedingte
Verpflichtung zu einer sittlichen Haltung? Aber dieses Helfen berührte
seine Seele nicht, ging an dem kühlen Menschen Sebastian irgendwie
vorbei.
Wußte er nicht, daß nicht nur das "Was", sondern
vor allem das "Wie" in einer Therapie wichtig ist? Daß
ein tröstendes Wort so recht vom Herzen der leidenden Seele mehr
Linderung verschafft - daß menschliches Verstehen, ein beruhigendes
Schulterklopfen, mehr hilft als manche Medizin - und sei es nur für
den Augenblick? |
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