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Auf dem Korridor wartete die lange Reihe der Heilung und Trost Suchenden,
und er, der schmächtige, überarbeitete Arzt in seinem weißen
Kittel, umgeben von den wartenden Krankenschwestern in ihren weißen
Saris, hockte nicht etwa kraftlos doch müde und überarbeitet
und etwas einsam, wie mir schien, hinter seinem großen Schreibtisch.
Welcher Mensch besitzt ein so unendlich großes Herz, in das
alles Mitgefühl und alle Hilfsbereitschaft hineinpaßt,
das alles Leid dieser Welt aufzunehmen vermag? Es würde nicht
einmal für das Leid der wenigen auf Heilung wartenden Patienten
reichen. Sebastian, der Arzt, half mit seinem Wissen, seinen Kenntnissen
der Heilkunde, seiner Medizin. Mehr konnte er nicht tun.
Ich schaute durch das große Fenster auf den Innenhof des Hospitals.
Dort stand Jesus Christ als großes, steinernes Monument in der
brennenden Mittagssonne, bunt in Gelb und Blau an-gestrichen und hob
seine Arme flehend gen Himmel. Überließ der Doktor ihm
jenen Teil ei-ner Hilfe, die allein aus der Kraft des Glaubens kommen
kann, eines ursprünglichen Glaubens, der sich letztlich als stärker
erweist mag als alle menschliche Wissenschaft und jede starre Konfession?
Überließ er ihm diesen Teil, glaubend oder hoffend, oder
vielleicht allein im Vertrauen darauf, daß SEIN Herz unendlich
groß und also offen für alle jene Leiden dieser Welt ist,
die nicht mit Penicillin oder Valium zu heilen sind?
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Einige Zeit nach dieser Begegnung las ich Marcel Prousts Roman "Combray"
und stieß auf eine Passage, die so sehr des Doktors Mentalität
kennzeichnet, daß man meinen könnte, Proust habe diesen Menschen
Sebastian gekannt: "...Wenn ich später im Laufe meines Le-bens
[...] Gelegenheit hatte, wirklich heiligen Personifizierungen der tätigen
Nächstenliebe zu begegnen, so hatten diese im allgemeinen das muntere,
positive, gleichgültige und etwas schroffe Gebaren des eiligen
Chirurgen an sich und ein Gesicht, auf dem kein Mitgefühl, kein
Gerührtsein gegenüber dem menschlichen Leiden zu lesen stand,
freilich auch keine Furcht vor der Berührung mit ihm, kurz, sie
trugen die sanftmutlosen Züge, das sympathielos erhabende Antlitz
der wahren Güte zur Schau..."
Es mochte auf die Woche genau ein Jahr vergangen sein, als ich auf meiner
Reise durch Südindien wieder nach Wyanad kam und im FATIMA HOSPITAL
nach Doktor Sebastian fragte. Ich wollte ihm einen guten Tag wünschen.
"Der Doktor arbeitet nicht mehr bei uns", sagte die Oberschwester,
"er hat einen Job in Arabien angenommen. Dort verdient er nun das
Zehnfache." Sie sah mich an, als könne sie das selbst nicht
glauben. "Ten times more!" sagte sie und lachte verlegen. |
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