Diese Überlappung zweier gänzlich unterschiedlicher Fragestellungen
hat die Debatte einigermaßen erschwert: Während die Pro-Hamburg-Fraktion
(vertreten im übrigen v.a. durch Nicht-HamburgerInnen) insbesondere
die Vorzüge der Metropole gepriesen, das allerdings mit dem Vorwurf
verknüpft hat, die Thüringen-BefürworterInnen würden sich in althergebrachter,
d.h. moralinsaurer Antira-Manier dem Anliegen der Flüchtlinge unterordnen
und auf diese Weise einem banalisierten Menschenrechtsaktivismus Vorschub
leisten, argumentierte der Thüringen-Flügel andersherum, wenn auch weniger
zugespitzt: Danach sei es unumstritten, dass Hamburg das bessere Pflaster
für linksradikalen Antirassismus abgäbe. Und dennoch: Die Chance, durch
einen direkten Kooperationspakt mit politisch organisierten Flüchtlingen
erste Schritte in Richtung trans-identitärer Organisierung zu gehen
(und somit den ,Wir-Ihr-Effekten' rassistischer Ein- und Ausschlußmechanismen
das Wasser abzugraben) sei einfach zu groß, ja zu verlockend, als dass
sie vergeigt werden dürfte. So weit die überaus verkorkste Ausgangssituation.
Entschieden wurde trotzdem, auf einem Treffen Anfang Dezember in Göttingen,
und zwar - anders als von den meisten erwartet - zugungsten von Thüringen!
Das aber blieb nicht folgenlos. Die mehr als knapp (und sicherlich komisch)
zustandegekommene Entscheidung war gerade mal drei Minuten alt, da entpuppte
sich so mancheR LinksradikaleR einmal mehr als typisch deutscher Michel,
d.h. als "typisch deutscher Verlierer" (wie es einer der Betreffenden
unumwunden zugab): Nicht nur wurden die ersten Austritte aus dem Vorbereitungskreis
des Grenzcamp-Projektes verkündet, nein, es wurden bereits Gegenaktivitäten
in Aussicht gestellt (die mittlerweile mit eigenem Aufruf beworbenen
Schill-Y-Out-Days in Hamburg). Und auch wurden die bereits erwähnten
Vorwürfe gegen die Thüringen-BefürworterInnen auf durchgedreht anmutende
Weise zugespitzt: Die Rede war jetzt von "deutschen Antiras", die "mal
wieder ihr Geschäft im Namen der Flüchtlinge gemacht" und die so - Berti
Voigts läßt grüßen - einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet hätten,
das anti-rassistische Grenzcamp-Projekt (als einem der vielverprechendsten
Projekte der Radikalen Linken überhaupt) an die Wand zu fahren. Ich
möchte an dieser Stelle kein weiteres Öl in's Feuer schütten. Der bizarr-schrillen
Tonlagen gab es wahrlich genug... Angesagt scheint mir vielmehr die
um Verständigung bemühte Auseinanderetzung. Denn auch meines Erachtens
ist das antirassistische Grenzcamp-Projekt viel zu wertvoll, als dass
es im Streit aufgerieben werden dürfte. Als Parteigänger Thüringens
möchte ich mich deshalb mit den Pro-Hamburg-Argumenten auseinandersetzen.
Hamburg ist auf zweierlei Art in's Spiel gebracht worden. Einerseits
wurde Hamburg in den allerhöchsten Tönen gepriesen: als Metropole (mit
linksradikaler Bewegungsgeschichte) sei es geradezu prädestiniert, Austragungsstätte
für das 5. antirassistische Grenzcamp zu werden. Andererseits wurde
erläutert, ja, mehr noch: davor gewarnt, in welchem Sinne das Projekt
,Grenzcamp' politisch vor die Hunde ginge, würde es im Jahre 2002 nicht
in Hamburg, dafür jedoch in Thüringen gastieren. An dieser durchaus
klassischen Zweiteilung möchte ich mich im folgenden orientieren.
2. Metropole Hamburg
Insbesondere drei Argumente haben es den Hamburg-Freundinnen angetan:
a) Große Öffentlichkeit: In dem für die Debatte zentralen, von einem
Hamburg-Fan-Club So36 unterzeichneten Bewerbungsschreiben heißt es diesbezüglich:
"Viel eher als in der Kleinräumigkeit an der deutsch-polnischen bzw.
deutsch-tschechischen Grenze ließe sich hier eine überregionale Öffentlichkeit
herstellen, die die rassistische Abschiebe- und Abschottungspolitik
auf Bundesebene zum Thema macht (...) Das Gehörtwerden und die Intervention
in die laufenden Diskurse stellen wir uns in Hamburg wesentlich erfolgreicher
vor als sonstwo." Und auch bestünde in HH die Chance, "dem Grenzcamp
in der Außenwirkung wieder ein verstärkt linksradikales/autonomes Profil
zu verleihen." Begründet wird diese Erwartung mit zweierlei: Auf der
einen Seite gäbe es in Hamburg - vergleichbar den Frankfurter Verhältnissen
- eine insgesamt größere, gegenüber antirassistischen Anliegen stärker
aufgeschlossene Öffentlichkeit, bestehend aus linken JournalistInnen,
Resten des bürgerlich-alternativen Lagers, diversen MigrantInnen-Communities,
extremistischen KulturproduzentInnen (Hamburger Schule und so...) sowie,
last but not least, eine immer noch vielfältige, als gigantischer Resonanzkörper
fungierende linksradikale Szene. Auf der anderen Seite seien in Hamburg
(Stichwort: Hamburg als Hort linksradikaler Bewegungsgeschichte) "linksradikale
Kodierungen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt (wenngleich nicht
unbedingt sympatisch)", mit der Konsequenz, dass ,unsere' Anliegen nicht
von vorneherein Gefahr laufen, mißverstanden zu werden, sei es als pures
Chaotentum oder als seichte Menschenrechtelei. b) Große Themenpalette:
Als Großstadt hätte Hamburg eine komplexere Sozialstruktur als z.B.
Jena oder Erfurt, es gäbe vielfältigere Milieus, Kulturen und Subkulturen,
einen höheren MigrantInnenanteil, mehr staatliche und gesellschaftliche
Institutionen, eine komplexere Infrastruktur (vom Hafen bis zur U-Bahn),
seit jüngstem einen rassistisch-autoritären Innensenator etc. etc. Hierdurch
vergrößere sich nicht nur die Zahl praktischer Interventionspunkte,
nein, solche offensichtlich komplexen Verhältnisse verböten es von vorneherein,
sich allzu schnell mit einfachen Analyse- und Interventionslösungen
zufrieden zu geben, einer Gefahr, der ja (westdeutsche) Linksradikale
nicht ganz selten erliegen würden, nicht zuletzt im scheinbar ach so
homogenen Osten... c) Standortvorteil Hamburg: Hamburg ist großartig,
nicht nur wegen seiner traditionsreichen und großen Polit-Szene, nein,
auch so - einfach als Stadt: "Die Elbe, der Hafen, die Schanze und der
goldene Pudel, Altona und Fischmarkt, Alsterschippern und Alter Elbtunnel,
Land Unter und die Hamburger Schule...na ja, Ihr wißt schon" (Fan Club
So36)
3. Stimmig, und irgendwie doch nicht...
Sicherlich, viele der genannten Argumente sind stimmig, jedenfalls im
großen und ganzen. Und dennoch: Bei näherer Draufsicht fällt so manches
Argument fragwürdiger bzw. weniger stichhaltig aus, als es auf den ersten
Blick erscheinen mag. Dies gilt es herauszuarbeiten, ist doch andernfalls
eine ernsthafte Gewichtung der Pro-Thüringen- mit den Pro-Hamburg-Argumenten
kaum möglich: a) Zur ,Großen Öffentlichkeit': 1. Dass die Pressereaktionen
in Frankfurt derart reichhaltig gewesen sind, hatte nicht nur mit großstadtähnlichen
Verhältnissen zu tun, sondern auch mit Anderem: Zum einen ist das Grenzcamp
seitens der Öffentlichkeit (nicht zuletzt der ausländischen Öffentlichkeit)
direkt mit dem Anti-Globalisierungs-Widerstand in Göteborg und Genua
in Verbindung gebracht worden. Das hat viele Extra-Aufmerksamkeits-Credits
eingebracht. Zum anderen ist die Idee, das hochsensible (!) Gebilde
,Frankfurter Flughafen' zu attackieren, ein echter Clou gewesen. Hierdurch
ist es uns möglich gewesen, mit unseren Aktionen auf eine Weise Sand
in's Getriebe zu streuen, wie das sonst nur selten der Fall ist. Auch
das hat zusätzliche Aufmerksamkeit erregt, Aufmerksamkeit, mit der anderswo
nicht so ohne Weiteres zu rechnen ist. 2. Desweiteren ist anzumerken,
dass die These zwar stimmt, wonach in Hamburg von einer potentiell größeren
Öffentlichkeit auszugehen ist, dass die Bedeutsamkeit hiervon allerdings
nicht überschätzt werden sollte. Denn um tatsächlich politischen Druck
aufbauen zu können (und um den geht es ja letztlich), bedarf es mehr
als kurzer Momente öffentlicher Präsenz, sei es auf Seite 4 in der Frankfurter
Rundschau, auf Seite 1 in der Süddeutschen Zeitung oder 40 Sekunden
in der Tagesschau. Nein, wachsender Druck verdankt sich vielmehr direkten
Mobilisierungserfolgen, d.h. dem Umstand, dass immer mehr (!) Menschen
bereit sind, auf eine bestimmte, z.B. antirassistische Weise Position
zu beziehen und so politischen Druck aufzubauen. Wie aber kommt es zu
Mobilisierungserfolgen? Zum einen darüber, dass wir mit unseren Anliegen
öffentlich präsent sind und auf diese Weise potentiell Interessierte
aufhorchen lassen. Das allerdings ist nur die eine Seite der Medaillie.
Die andere ist unsere Bereitschaft (ob in Hamburg, Thüringen oder sonstwo),
immer wieder offen auf alle die zuzugehen, die uns zwar irgendwie nahestehen
und die deshalb immer wieder aufhorchen, die sich aber noch nicht, zumindestens
nicht weitergehend, in linksradikale Zusammenhänge verirrt haben. Just
diese Bereitschaft ist indes in linksradikalen Zusammenhängen mehr als
unterentwickelt. Sie herauszubilden, ist deshalb absolut erforderlich,
sind wir doch andernfalls dazu verurteilt, weiterhin um uns selbst,
d.h. um unsere eigene, mehr als marginale Randexistenz zu kreiseln.
So betrachtet dürfte deutlich werden, weshalb es zu kurz greift, einfach
mal die Hamburger Öffentlichkeitspotentiale zu lobhudeln, ohne jedoch
genauer auszuloten, ob diese unter den gegebenen Bedingungen überhaupt
effektiv nutzbar sind, jedenfalls so effektiv, dass sie als ausschlaggebendes
Pro-Hamburg-Argument taugen. Oder zugespitzter noch: Was nutzt uns die
schönste Öffentlichkeit (die in Hamburg sicherlich zu haben ist), wenn
wir gleichzeitig nichts bzw. nur sehr wenig daraus machen? 3. Wenn wir
von öffentlicher Wirksamkeit sprechen, dann sollte schließlich auch
nicht vergessen werden, dass ein (trans-identitäres) 1000-Personen-Camp,
davon vielleicht die Hälfte Flüchtlinge und MigrantInnen, einen ganz
eigenen Ereigniswert darstellt und auf diese Weise so manchen thüringenspezifischen
Öffentlichkeitseffekt herstellen könnte. b) Zur ,Großen Themenpalette':
Auch dieses Argument scheint mir schief zu sitzen: 1. Gewaltverhältnisse
gibt es überall, sie treten stets gemeinsam auf, ob in der Großstadt
oder der Provinz. Auf den Punkt gebracht wird dies nicht zuletzt durch
die Sprößlinge sog. ,National Befreiter Zonen': Mal attackieren sie
Schwule, dann verwüsten sie jüdische Friedhöfe, oder sie jagen MigrantInnen,
zünden Flüchtlingsunterkünfte an, und auch erschlagen sie von Zeit zu
Zeit Obdachlose, machmal auch Behinderte. Sie zeigen hiermit - es mag
noch so bizarr sein -, dass Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus,
Sexismus, Heterosexismus, Kapitalismus, Normalismus etc. nicht nur überall
anzutreffen, sondern auch auf vielfältige Weise miteinander verschränkt
sind. Hieraus folgt aber: Dass es in Hamburg mehr Interventionspunkte
geben soll als anderswo, davon kann, jedenfalls im Lichte solcher Überlegungen,
einfach nicht die Rede sein! 2. Die Tatsache, dass die mögliche Themenpalette,
ob in Hamburg oder Thüringen, prinzipiell groß ist, heißt noch lange
nicht, dass es im Rahmen des antirassistischen Grenzcamps sinnvoll wäre,
sämtliche dieser Themen aktionsförmig (!) umzusetzen. Vielmehr will
überlegt sein, welche Themen bzw. welche Themenverknüpfungen wann, wo
und wie aufbereitet werden. Denn nur, wo dies in systematischer und
strategischer Absicht erfolgt, wird thematische Vielfalt zur Stärke.
Andernfalls droht Verzettelung und somit der Eindruck allzu großer Unübersichtlichkeit
oder gar Beliebigkeit (Stichwort: Roter Faden!). Diese Einschätzung
ist innerhalb des Grenzcampzusammenhangs lange geteilt worden, mit dem
Zusatz allerdings, dass das Grenzcamp mehr zu sein habe als purer Aktionsraum,
nämlich auch diskursiver, d.h. öffentlicher Raum, also Raum für Veranstaltungen,
workshops und Diskussionsrunden, auf dass wenigstens in diesem Sinne
thematische Vielfalt herrschen möge. So betrachtet, dürfte aber deutlich
werden, wie schief es ist, mit dem Argument inhaltlicher Vielfalt für
Hamburg zu werben. Denn wenn ein Gutteil der inhaltlichen Vielfalt sowieso
über Veranstaltungen u.ä. hergestellt wird, dann hat doch dieser Aspekt
mit der Ortsfrage nur sehr wenig zu tun! Oder macht es für die jeweiligen
Inhalte (welche eh schriftlich aufbereitet, d.h. über verschiedendste
Szene-Medien publik gemacht werden sollten) einen Unterschied, ob das
Grenzcamp-Veranstaltungszelt in Hamburg oder Thüringen steht?! 3. Der
Umstand, dass (westdeutsche) Linksradikale immer wieder, nicht zuletzt
im Osten, zu Simplifizierungen neigen (und so ungewollterweise der völkischen
Weltsicht entgegenarbeiten, wonach so manche Ost-Zone von ,Fremdem'
und ,Anderem' befreit sei), ist zweifelsohne blöd. Allein: Kurieren
lässt sich derlei Verhalten nicht in Hamburg! Nein, den linksradikalen
Hang zu Simplifizierungen, Stereotypisierungen u.ä., dem kann nur -
überall dort, wo er auftritt - durch inhaltliche Veranstaltungen u.ä.
begegnet werden, und die können stattfinden, wo sie wollen, Hauptsache,
sie finden statt! c) Zum ,Standortvorteil Hamburg': Geschenkt, Hamburg
ist großartig. Insofern ist es zweifelsohne ein charmanter Schachzug
des Kreuzberger Bewerbungsschreibens gewesen, Hamburg auch in dieser
Hinsicht abzufeiern. Und dennoch: Dass der Flair einer Stadt in einer
politischen Debatte eine derart zentrale Rolle bekommen hat (zumindest
unterschwellig), das ist doch ein wenig obszön (oder auch wohlstandschauvinistisch),
jedenfalls gemessen daran, dass wir es leider mit äußert beschissenen
Dingen zu tun haben, u.a. mit so etwas Banal-Bösem wie der Residenzpflicht,
die es bestimmten Menschen schlicht verbietet, nach Lust und Flair zu
leben bzw. Politik zu machen.
4. Zwischenbilanz
Zugestanden, viele meiner Einwände sprechen auf keinen Fall gegen, sie
sprechen aber auch nicht für Hamburg, sie zeigen lediglich, dass eine
ganze Reihe der zugungsten von Hamburg in's Spiel gebrachten Argumente
mitnichten so zugkräftig sind, wie es in vielen Debattenbeiträgen immer
wieder als unhintergehbare Selbstverständlichkeit behauptet wurde (Stichwort:
Selbstläufer...). Insbesondere die Doppel-Problematik, (1.) auf welche
Weise und (2.) mit welchen Zielsetzungen ,wir' beabsichtigen, Öffentlichkeit
herzustellen, ist um einiges komplexer, ja unaufgelöster, als in den
allermeisten Pro-Hamburg-Statements der Eindruck erweckt wird. Demgegenüber
sprechen allenfalls zwei Umstände für Hamburg: 1. Hamburg ist in der
Tat eine attraktive Stadt und auch verfügt Hamburg über eine (immer
noch) große Szene. Im Falle eines Hamburger Camps (vielleicht ja 2003...)
hätte das indessen beeindruckende TeilnehmerInnenströme zur Folge, einschließend
diverser Rückkoppelungseffekte, welche dies (auch über Hamburg hinaus)
für die linksradikale Szene mit sich brächte. 2. Schill: Keine Frage,
Schill ist gefährlich, nicht zuletzt als modernisierter Prototyp einer
sich immer autoritärer gebärdenden Innen- und Rechtspolitik. Mit der
power eines antirassistischen Grenzcamps eine diesbezügliche Kampfansage
zu machen, wäre sicherlich sinnvoll!
5. Vom weißen Antirassismus zur trans-identitären, mehr noch: zur
hybriden Organisierung
Wie eingangs schon angedeutet, hat sich das Hamburg-Lager nicht damit
begnügt, Hamburg als potentielle Grenzcamp-Stätte stark zu machen. Nein,
es wurde zusätzlich (so wie in jeder hundsgemeinen Wahlkampagne auch)
explizit gegen Thüringen argumentiert, mitunter polemisiert. Und das
auf zweierlei Weise: Zum einen wurden viele der Pro-Hamburg-Argumente
nicht nur positiv, sondern auch negativ, d.h. als Anti-Thüringen-Argumente
in die Waagschale geworfen, eine sattsam bekannte Strategie, die keiner
weiteren Erläuterung bedarf. Zum anderen ist Thüringen ob der für dort
in's Auge gefaßten Kooperation zwischen dem mehrheitlich deutsch-weißen
Grenzcampvölkchen sowie The Voice und anderer Flüchtlingsselbstorganisationen
massiv attackiert worden. Denn programmatisch hätte dies die "Reduktion
auf bloßen Antirassismus" (Schill-Y-Out-Days-Aufruf) zur Folge, bedeutete
also nichts anderes als den Ausverkauf linksradikaler Widerstandsperspektiven:
Anstatt Antirassismus als prinzipielle Absage an die gesellschaftlichen
Verhältnisse zu begreifen, würde mit der Thüringen-Entscheidung nur
noch das aus der Antira-Arbeit hinlänglich bekannte (und nicht selten
als karitativer Paternalismus daherkommende) Unterstützungs-Klein-Klein
drohen. Als Ort radikaler Gesellschaftskritik hätte das Grenzcamp somit
ausgedient. Zu erwarten sei vielmehr ein "flüchtlingspolitisch reduziertes
Camp" - zuungunsten eines "Hamburger-Polit-Zeltlagers" (um nur eine
von vielen diesbezüglichen Stimmen zu zitieren). Warum das so wäre,
das indessen ist nur selten ausgeführt worden, wahrscheinlich, weil
es als Subtext sowieso allen klar geworden sein dürfte: Im Kern scheint
es den KritikerInnen darum zu gehen, dass The Voice keine genuin linksradikale
Kombo sei, genausowenig wie die Mehrheit der deutsch-weißen Antiras
(wer immer das innerhalb des Grenzcampzusammenhangs sein soll) mit Antira-Arbeit
gesellschaftsverändernde oder gar revolutionäre Perspektiven verbinden
würde. Da aber The Voice und andere Flüchtlingsselbstorganisationen
(samt ihrer deutschen Antira-FreundInnen) Quasi-AusrichterInnen des
Thüringer Camps wären, hätte das automatisch den beklagten Substanzverlust
zur Folge. Dieser Perspektive gilt es, in vielerlei Hinsicht zu widersprechen:
1. Es mag sein (ohne mir wirklich ein Urteil anmaßen zu können), dass
The Voice in seiner Gesamtheit kein linksradikaler Zusammenhang ist
(so wie Linksradikalität gemeinhin, d.h. seitens deutscher Linker bestimmt
wird), jedenfalls könnte mensch das aus der offiziellen Selbstdarstellung
von The Voice herauslesen (www.humanrights. de/voice). Allein: Mir scheint
dies kein Zufall zu sein. Wem die fundamentalen Menschen- und Sozialrechte
entzogen sind, die bzw. der hat notgedrungenerweise ein ganz eigenes
Politik- und Radikalitätsverständnis. Konkret: Wenn The Voice z.B. einklagt:
"Recht auf Leben - Abschaffung von Folter, unmenschlicher und erniedrigender
Behandlung; Abschaffung von Sklaverei und Zwangsarbeit; Recht auf persönliche
Freiheit und Sicherheit", dann spiegelt sich hierin ein Erfahrungshorizont
wieder, der deutschen Weißen zumeist erspart bleibt und der ihnen deshalb
auch nicht zum politischen Bezugspunkt geraten kann. Dies zu ignorieren
(oder als reformistische Menschenrechtspolitik zu denunzieren), ist
nicht nur zynisch und borniert, nein, es verkennt auch einen allgemeinen,
für revolutionäre Gesellschaftsveränderung fundamentalen Sachverhalt:
Radikale Widerständigkeit ist ein Privileg, keine Selbstverständlichkeit.
Wer im absoluten Existenzkampf steckt, der bzw. dem bleibt selten mehr
als Unterwerfung oder Unsichtbarkeit, oder aber (verzweifeltes) RebellInnentum,
welche seinerseits allerdings in den meisten Fällen brutal zerschlagen
wird. Demgegenüber bedarf die Entwicklung langfristiger und grundlegender
Widerstandsperpektiven ein Mindestmaß sozialer und persönlicher Freiheit,
gleichsam als Voraussetzung dafür, individuelle und kollektive Emanzipationsprozesse
initiieren bzw. durchlaufen zu können. Ja, und deshalb scheint es mir
äußerst unangebracht (weil eben die Wirkungsmechanismen rassistischer
Diskriminierung verkennend), Kampagnen wie die Anti-Residenzpflicht-Kampagne
als verkürzten Antirassismus abzutun. Vielmehr gilt es, solche Kampagnen
zu unterstützen, auf dass immer mehr Flüchtlinge in den Stand gesetzt
werden, weitergehende Perspektiven entwickeln zu können - so denn dies
nicht sowieso schon geschehen ist. Wohlgemerkt: ,So denn'! Denn so wichtig
es ist, unterschiedliche Erfahrungshorizonte ernstzunehmen (inkl. unterschiedlicher
Schlußfolgerungen, die das nach sich ziehen kann), so falsch wäre es,
hieraus den allgemeinen Schluß zu ziehen, Flüchtlingsselbstorganisationen
seien prinzipiell weniger radikal, ja reformistisch. Genau dieser Eindruck
ist jedoch in der Hamburg-Thüringen-Debatte regelmäßig erweckt worden,
und zwar dadurch, dass immer wieder (im Rahmen des allgemeinen Anti-Thüringen-Bashings)
die These eingespielt wurde, wonach die Bezugnahme auf die soziale Lage
als Ausgangspunkt antirasstischer Praxis (wie gesagt: Ausgangspunkt!)
automatisch bedeute, hierbei stehenzubleiben, das Ganze also im (vorgeblichen)
Elend reformistischer Menschenrechtelei versacken zu lassen. Das allerdings
ist nicht nur dreist, sondern auch selbstgerecht, ist es doch nicht
zuletzt die undogmatisch Radikale Linke gewesen (auf welche sich die
Pro-HH-Fraktion permanent bezieht), die stets das Konzept der ,Politik
in der 1. Person' stark gemacht hat, also jene Perspektive, wonach politische
Praxis nicht in sog. StellvertreterInnenpolitik erstarren, sondern vielmehr
die eigene soziale als Basis, d.h. als Ausgangs(!)punkt begreifen sollte,
sei es in Stadtteil-, Häuser- oder JobberInnenkämpfen. So betrachtet,
drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass in den letzten Monaten
immer wieder mit zwei Meßlatten hantiert wurde: Während deutsche Bewegungslinkte
sich sehr wohl zutrauen, den Kampf um die eigenen Lebensbedingungen
mit einer allgemeinen linksradikalen Perspektive zu verknüpfen, stehen
Flüchtlinge unter dem Generalverdacht, genau dies nicht auf die Reihe
zu kriegen bzw. gar nicht erst anzustreben, ein Eindruck, gegen den
sich bereits in Göttingen ein Vertreter von The Voice vehement verwahrt
hat! 2. Das Gerücht, wonach politische Kooperation mit Flüchtlingen
eine lahme, ja geschäftsschädigende Angelegenheit, sei, ist arm, es
gibt Auskunft nicht zuletzt über den beschränkten Horizont derer, die
Solches behaupten. Denn unabhängig davon, ob The Voice und andere MigrantInnenorganisationen
humanistisch, radikaldemokratisch oder ngo-mäßig sind, sich hiervon
abschrecken zu lassen, ist alles andere als plausibel. Worauf es ankommt,
ist vielmehr, eine eigene Positionsbestimmung in Sachen antirassistischer
Kooperation vorzunehmen. Wer dies tut, wird alsbald mit dreierlei (oder
mehr...) Einsicht belohnt werden: Erstens: Kooperation muß sich nicht
in reformistischer Unterstützungsarbeit oder gar Paternalismus (ob karitativ
oder instrumentell) erschöpfen. Nein, es sind auch andere, insbesondere
radikale Kooperationen vorstellbar. Zweitens: Unterstützungsarbeit und
andere, sei es soziale oder politische Kooperationsformen schließen
einander nicht aus. Im Gegenteil: Langfristig (Stichwort: Transidentitäre,
mehr noch: hybride Bündnisse, s.u.) geht das eh ineinander über! Drittens:
All dies ist nicht nur Zukunfts-, sondern auch Vergangenheitsmusik.
Dies meint, dass die (in der Tat) häufige Reduktion von Anti-Rassismus
auf moralisch-humanitäre Unterstützungsarbeit ein eher jüngeres Phänomen
ist. Noch in den 80-er, auch in den frühen 90-er Jahren ist Anti-Rassismus
häufig in eine sozialrevolutionäre, d.h. anti-kapitalistische Perspektive
eingebunden gewesen. (vgl. hierzu vor allem die Flüchtlingskampagne
der RZ). Dies ist zwar seinerseits mit zahlreichen Fragwürdigkeiten
einhergegangen, immerhin wurde Flüchtlingen und MigrantInnen die Last
des globalen ,Revolutionären Subjekts' aufgebürdet. Und dennoch: Es
zeigt, dass wir in Thüringen nicht vor der Neuerfindung des Rades stehen.
In diesem Sinne lohnt es auch, bereits gemachte Erfahrungen und Erkenntnisse
ernst zu nehmen. Verwiesen sei diesbezüglich insbesondere auf ein vom
Anti-Rassismusbüro/Bremen im September 2000 vorgelegtes Strategiepapier,
in welchem u.a. das Scheitern diverser Kooperationsprojekte zwischen
deutschen AntirassistInnen und Flüchtlings- bzw. MigrantInnenselbstorganisationen
analysiert wird. Nachzulesen ist dies (inklusive einer nicht minder
lesenswerten Replik) unter: www.is-Bremen.de/arab. Gewendet auf die
Jetzt-Zeit, heißt dies: Es ist billig, (so wie das Teile der Pro-Hamburg-Fraktion
tun), unter Verweis auf den derzeitigen Stand des Anti-Rassismus laut
Bäh! zu schreien und sodann die Biege nach Hamburg zu machen. Verdammt
noch mal, das ist doch keine Lösung! Wer ihre bzw. seine Kritik an der
gegenwärtigen, mitunter tatsächlich besorgniserregenden Verfaßtheit
des Antirassismus ernst meint, die bzw. der geht vielmehr nach Thüringen
und guckt, dass schnellstmöglichst Veränderungen in die Wege geleitet
werden. Dass dies nicht ohne Kritik, ja Auseinandersetzung abgehen wird,
das wird von überhaupt niemanden in Frage gestellt, zuallerletzt von
den refugees und migrants selbst! 3. Ich komme zum (vorerst) letzten
Argument, welches weniger Erwiderung als vielmehr Outing einer Leerstelle
(im Pro-HH-Diskurs) ist, einer Leerstelle allerdings, die ominös und
deshalb auszudeuten ist: sei es als machtpolitischer Winkelzug, unfreiwillige
Selbstentlarvung oder aber skurille Hör- und Sehblockade. In der für
die Pro-Hamburg-Fraktion ausschlaggebenden Behauptung, wonach in Thüringen
v.a. Flüchtlingsunterstützungsarbeit geplant, dies jedoch verkürzter
und deshalb abzulehnender Anti-Rassismus sei, wird nämlich geflissentlich
unterschlagen, dass nicht nur auf den beiden Nach- und Vorbereitungstreffen
in Frankfurt und Göttingen, sondern auch in mehreren schriftlichen Beiträgen
Weiteres und Anderes als das bislang Ausgeführte zugunsten von Thüringen
in die Waagschale geworfen wurde, und zwar von Leuten u.a. aus Frankfurt,
Berlin und Bremen: Demnach böte ein zusammen mit Flüchtlings- und MigrantInnenorganisationen
auf die Beine gestelltes Grenzcamp die Chance, endlich den Umstand anzugehen,
dass das antirassistische Grenzcampvölkchen (bislang) ein mehrheitlich
deutsch-weißes ist. Denn dieser (auch aus anderen Zusammenhängen bekannte)
Umstand ist alles andere als harmlos. Nein, ganz im Gegenteil: Er ist
Effekt rassistischer Ein-und Ausschlußmechanismen, also weder Zufall
noch Neutrum, sondern Teil des Problems, welches wir vorgeben, mittels
antirassistischer Grenzcamps und anderer Aktivitäten bekämpfen zu wollen.
Konkret meint dies: MitgrantInnen, Flüchtlinge und Papierlose sind zahlreichen
institutionellen wie strukturellen Schikanen, Diskriminierungen und
Widrigkeiten ausgesetzt. Dies reicht von gezielten Strategien sozialer
Isolation insbesondere im Flüchtlingsbereich (Stichwörter wären: Heimunterbringung,
Arbeitsverbot, Residenzpflicht, Chipkartensystem...), geht weiter mit
(nicht zuletzt) struktureller Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt,
in der Welt der Lohnarbeit, im Bildungssystem, im Bereich politischer
Partizipation etc. und endet bei alltäglicher, sei es verbaler, symbolischer
oder physischer Gewalt. Sämtliche dieser Ausschlüsse haben indessen
- und das ist entscheidend - eine unabdingbare Voraussetzung: Sie erfordern
die Existenz einer kollektiven, nicht nur nationalen, sondern auch rassistisch
aufgeladenen WIR-Identität, der ihrerseits ein wie auch immer geartetes
IHR gegenüberzustehen hat, bestimmt als das mehr oder minder Fremde
bzw. Andere. Denn nur, wo ein WIR von einem IHR unterschieden wird,
ist es überhaupt plausibel oder legitim (jedenfalls in rassistisch-national
verfaßten Gesellschaften), dass bestimmte Menschen den eben aufgelisteten
Schikanen, Diskriminierungen und Widrigkeiten unterworfen werden können.
Die Existenz solcher WIR-IHR-Identitäten setzt allerdings doppelte,
spiegelbildlich aufeinander bezogene Konstruktionsprozesse voraus, und
das, weil derartige WIR-IHR-Identitäten nichts sind, was einfach so
auffindbar wäre. Stattdessen ist festzuhalten, dass im Zuge historischer
Prozesse (d.h. durch Kolonialismus und Sklaverei, durch Herausbildung
kapitalistisch-patriarchaler Nationalstaaten, durch Apartheit und rassistische
Diskriminierung etc.) Hautfarbe und andere, ebenfalls physische (und
neuerdings auch kulturelle) Merkmale als vorgeblich bedeutsame Unterscheidungskriterien
nicht nur konstruiert, sondern auch markiert (= bestimmt) wurden, und
dass es auf dieser Grundlage (unter Rückgriff auf weitere, tatsächliche
wie zugeschriebene Merkmale und Eigenschaften) zur Bildung verschiedener
weißer, schwarzer und anderer Identitäten gekommen ist. Was dies genau
heißt, dem kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden, würde dies
doch die Beantwortung einer Vielzahl unterschiedlicher Fragen erforderlich
machen, Fragen wie z.B. folgender: Was heißt blackness und whiteness,
was heißt, dass Schwarzsein bzw. Weißsein historisch bzw. kulturell
produzierte Identitäten sind, wie entstehen diese Identitäten, warum
ist whiteness auf blackness angewiesen, was sind phantatisch-projektive
Zuschreibungen (zwischen Lust, Begehren und Angst), wie und weshalb
werden Zuschreibungen verinnerlicht und folglich Realität, wie verschränken
sich blackness, whiteness und andere Herrschaftsverhältnisse (z.B. gender),
inwieweit sind blackness und whiteness verkürzte und deshalb auszudifferenzierende
Polarisierungen (hinsichtlich asiatischer, arabischer, osteuropäischer...)
Identitäten etc etc.? Wie gesagt, jetzt möchte ich diesen Strang nicht
weiter verfolgen, verwiesen sei aber auf den in der interim Nr. 541
bzw. im kassiber Nr. 47 abgedruckten Text "Koloniale Bilderwelt und
Subjekt. Oder: whiteness, blackness und gender: Zur Verschränkung von
Rassismus und Sexismus". Dieser Text versucht nämlich, auf einige der
eben aufgeworfenen Fragen Antworten zu formulieren, und auch handelt
es sich um einen der Texte, welche im Laufe der Thüringen-Hamburg-Debatte
zur Diskussion gestellt, welche allerdings von der Pro-Hamburg-Fraktion
samt und sonders ignoriert wurden.... Zurück: Führt sich mensch das
eben Gesagte vor Augen, wird offensichtlich, weshalb es alles andere
als ein Zufall ist - dafür jedoch Effekt rassistischer Ein- und Ausschlußmechanismen
-, dass es innerhalb des Grenzcamp-Zusammenhangs bislang zu keiner weiterreichenden
Kooperation zwischen refugees und non-refugees bzw. MigrantInnen und
Nicht-MigrantInnen gekommen ist. Denn nicht nur existieren zwischen
refugees, deutschen Weißen und MigrantInnen deshalb Unterschiede, weil
sie häufig unterschiedlichen gesellschaftlichen bzw. kulturellen Kontexten
entstammen und sich hierdurch die Summe möglicher Überschneidungspunkte
reduziert (womit allerdings nicht das Vorurteil fester, streng voneinander
abgezirkelter Kulturkreise bedient werden soll, s.u.). Nein, zwischen
refugees, deutschen Weißen und MigrantInnen existieren nicht zuletzt
deshalb Unterschiede, weil sie qua rassistischer Verhältnisse unterschiedlich
vergesellschaftet, d.h. an unterschiedliche Orte im gesellschaftlichen
Raum ,platziert' werden. Oder zugespitzer noch: Während deutsche Weiße
zum gesellschaftlichen WIR gehören (samt aller Einschlüsse, die das
mit sich bringt) gehören refugees und MigrantInnen zum gesellschaftlichen
IHR (samt aller Ausschlüsse, die das mit sich bringt). Und das gilt
für alle, also auch für weiße Linksradikale, sie mögen sich noch so
wehren, aber dem Privileg, nicht (!) rassistisch diskriminiert, ausgegrenzt
und schikaniert zu werden, dem kann ein deutscher Weißer in Deutschland
einfach nicht entkommen. Hieraus folgt indes, dass trans-identitäre
(ja, mehr noch: hybride) Organisierung die einzig angemessene Strategie
ist, to fight racism seriously! Um zu verstehen, was dies konkret meint,
sollte mensch sich zuallerest zwei Aspekte in Sachen Identität vor Augen
führen: Zum einen ist es - ob's gefällt oder nicht - unumgänglich, die
Unterschiede zwischen den jeweiligen Identitäten anzuerkennen, d.h.
wahr- und ernstzunehmen! Schließlich sind unsere Identitäten Ausdruck
unterschiedlicher Erfahrungen, Erfahrungen, die je nach Klasse, Geschlecht
Ethnizität etc. unterschiedlich ausfallen und folglich mit je spezifischen
,Vorgaben' zur Subjekt- bzw. Identitäsbildung einhergehen. Zum anderen
gilt aber auch, dass Identität nichts ist, was einfach reflexartig,
quasi von selbst entstehen würde, je danach, an welchen Platz ein Mensch
im gesellschaftlichen Raum geraten ist. Nein, Identitäten sind immer
das Produkt eines Wechselspieles: Menschen sind zwar bestimmten Bedingungen
ausgesetzt (die sie sich nicht aussuchen können), es gibt aber auch
Spielräume, Spielräume, in welchen die eigenen Umstände reflektiert
werden und Veränderungs- oder gar Revolutionswünsche entstehen können.
(Gäbe es diese Spielräume nicht, wäre es überhaupt nicht erklärbar,
warum es ,uns', warum es Widerstand überhaupt gibt). In diesem Sinne
ist v.a. die Identitätspolitik marginalisierter bzw. diskriminierter
Gruppen ernst zu nehmen (Lesben/Schwule, MigrantInnen und Flüchtlinge,
Frauen, Behinderte, etc.), denn um Widerstand leisten zu können, muß
zuallererst ein Widerstandskollektiv geformt werden, müssen sich die
Betreffenden über ihre jeweiligen Diskriminierungserfahrungen genauso
austauschen wie darüber, wohin die Reise gehen soll, eine Strategie,
die nicht selten mit einer (taktischen) Bejahung der eigenen Marginalisiertheit
verknüpft ist (verwiesen sei beispielhaft auf das Kanaak Attack-Konzept).
Ja, und mit Abstrichen gilt dies auch für linken Widerstand im allgemeinen,
auch dieser bedarf eines kollektiven Wir's, andernfalls wären die linken
WiderständlerInnen nicht mehr als ein wilder, überhaupt nicht handlungsfähiger
Hühnerhaufen. Und dennoch: So wenig Identität in Bausch und Bogen verteufelt
werden darf (ich bitte, dies zu berücksichtigen!), so sehr gilt umgekehrt,
dass Identitäten in erster Linie Herrschaftsprodukte sind. In ihnen
spiegeln sich, wie eben schon ausgeführt, die Summe der jeweiligen Erfahrungen
wider, d.h. die Zumutungen (zum Guten wie zum Schlechten), die Diskriminierungen,
die Schikanen, die Zwänge, die Normierungen, die Einordnungen, die Klassifizierungen,
die Polarisierungen, kurz, alles das, was Menschen erleben müssen bzw.
erleben dürfen. Ja, und weil das so ist, weil unsere Identitäten in
erster Linie verinnerlichte Herrschaftsverhältnisse sind, weil wir zum
Bestandteil der von uns bekämpften Verhältnisse gemacht werden, ist
es unumgänglich, unsere Identitäten kritisch zu hinterfragen, d.h. sie
auseinanderzupflücken und sie (langfristig) zu etwas ganz Anderem zusammenzusetzen:
Es gilt (um's auf dem Feld des Rassismus zu formulieren) Identitäten
zu erproben, die jenseits rassisisicher IHR-WIR-Polarisierungen angesiedelt
sind, die nicht auf Abgrenzung, Aus- und Einschluß, projektiven Zuschreibungen
etc. beruhen, sondern die im Fluß sind, sich immer wieder wandeln, weiterentwickeln,
die das Andere nicht nur im Außen vermuten (bei den Fremden...), sondern
auch in sich selbst, die aus sich heraus zu immer neuen Gewässern starten,
neuen Gewässern nicht zuletzt in sich selbst (Stichwort: Freies Fluten
- hey, merkt Ihr was!?). Angesagt ist mit anderen Worten das, was im
anglo-amerikanischen Sprachraum mit dem leider etwas sperrigen Begriff
der Hybridität bezeichnet wird: Wo sich hybride Identitäten bzw. hybride
Kulturen herausschälen, da gibt es kein Außen, welches von einem wie
auch immer bestimmten Innen streng abgeschottet wäre, dort ist es nicht
mehr möglich, Dazugehörige und solche, die nicht dazugehören, auseinanderzusortieren
und auf dieser Grundlage Diskriminierungs-, Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse
zu errichten. Doch stopp: Das, was ich soeben formuliert habe, ist Zukunftsmusik,
ist nicht mehr als utopischer Fluchtpunkt. Denn wir stehen derzeit irgendwo
ganz anders. Wir sind - Achtung Zuspitzung! - Gefangene unserer Identitäten,
was auch nicht weiter verwunderlich ist, schließlich ist es für keineN
möglich (ob Flüchtling, weisser DeutscheR oder MigrantIn), einfach mal
die gesellschaftlichen Verhältnisse (aus welchen unsere jeweiligen Identitäten
hervorgehen) auszuhebeln. Oder anders: Solange gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse
existieren, solange sind auch unsere Identitäten unmittelbare, schattengleiche
ZeugInnen dieser Verhältnisse. Schade, aber wahr! In diesem Sinne kann's
in Thüringen um nicht mehr als erste Schritte gehen, erste Schritte
allerdings - und an dieser Stelle kommt das schöne Wörtchen des Trans-Identitären
in's Spiel - welche die engen Grenzen des eigenen Identitäts-Raumes
hinter sich lassen, das jedoch immer im Wissen darum, dass Identitäten
äußerst unterschiedlich ausfallen können, also gar nicht so ohne Weiteres
zusammenpassen und deshalb stets geguckt werden muß, wo's paßt und wo
nicht und wo es ggf. auch ansteht, zu streiten, zu streiten nicht zuletzt
darüber, wie (langfristig) ein solches anti-rassistisches Widerstands-WIR
herausgebildet werden kann, welches seinerseits bereits trans-identitär,
ja hybrid gestaltet ist. Oder anders: In Thüringen soll's vor allem
darum gehen, mittels trans-identitärer Organiserung, dem Kern des Rassismus
das Wasser abzugraben: Rassismus setzt Trennungen voraus (WIR-IHR...)
und errichtet sie immer wieder neu. Dem kann nur begegnet werden, indem
die Trennungsschrauben gelockert und teilweise auch aufgedreht werden,
indem also Flüchtinge, deutsche Weiße und MigrantInnen kooperieren,
auf dass nicht nur die Identitätsmauern eingerissen (oder zumindetens
angekratzt), sondern auch die direkt hiermit zusammenhängenden Herrschaftsverhältnisse
bekämpft werden, sei es das Abschieberegime, das Arbeitsverbot oder
die handfeste Gewalt auf der Straße. Indes: Hiervon wollen verschiedendste
Leute aus der Pro-HH-Fraktion nichts wissen, und zwar so wenig, dass
es einige von ihnen vorgezogen haben, den Mantel des Schweigens darüber
auszubreiten, wie und mit welchen Argumenten für Thüringen überhaupt
argumentiert wurde. Dafür scheint es im Gegenzug (wie gesagt: es scheint!),
als ob es einige der Hamburg-Zampanos vorzögen, in ihrem eigenen Saft
weiterzuschmoren, d.h. ihren eigenen Schrebergarten (in den Farben:
deutsch-weiß-autonom) weiter zu bestellen, und das im Namen eines, wie
es immer wieder heißt, echten (eines guten, eines reinen, eines ordentlichen....)
Bewegungscamps. In diesem Zusammenhang eine Frage: Kann mir mal eineR,
irgendeineR erklären, warum es nicht möglich sein soll, in Thüringen
ein linksradikales und d.h. auch: ein transidentitäres Bewegungscanp
auf die Beine zu stellen. Mensch, Hirschkäfergezwitscher noch mal: Das
wäre doch cool, tausend mal cooler (und obendrein eine riesige Chance),
als einmal mehr eine antirassistische Grenzcamp-Vollversammlung mit
mehrheitlich deutsch-weißem Personal abzuhalten!!!
6. Fazit
In der Zwischenbilanz hieß es, dass für Hamburg insbesondere Schill
sowie infrastrukturelle Vorteile sprechen würden. Dies ist einiges,
aber in meinen Augen nicht genug, jedenfalls nicht im direkten Vergleich,
also gemessen daran, dass in Thüringen ganz Neues auf uns wartet, Neues,
was schwierig, herausfordernd und obendrein privilegien-infragestellend
ist, was umgekehrt aber auch eine Chance darstellt, die Chance nämlich,
auf eine Viezahl der Notwendigkeiten reagieren zu können, um die wir
langfristig sowieso nicht rumkommen (so wie ,wir' ja auch nicht um's
patriarchale Geschlechterverhältnis rumkommen...). In diesem Zusammenhang
sei schließlich noch angemerkt, dass mensch die Chance dort am Schopfe
packen sollte, wo sie sich bietet. Dies ist insbesondere an die Adresse
derer gerichtet, die immer wieder darauf hingewiesen haben, dass mensch
ja auch in Hamburg mit Flüchtlingen und MigrantInnen kooperieren könnte.
Das ist zweifelsohne richtig. Allein: In Hamburg gibt es derzeit keinen
Flüchtlinge und MigrantInnen, die in vergleichbarer Weise wie The Voice
oder die Flüchtlingsinitiative Brandenburg mit dem Grenzcamp verschwistert
wären. In diesem Sinne sollte mensch - so denn ihm das Trans-Identitäre
tatsächlich am Herzen liegt - lieber dort zupacken, wo sich die Chance
auftut, anstatt in Hamburg auf die Suche nach kooperationsbereiten Flüchtlingen
und MigrantInnen zu gehen. Ein Vorhaben, welches sowieso zum Scheitern
verurteilt wäre, wie jedeR einräumen wird, die bzw. der überhaupt schon
mal die Mühe auf sich genommen hat, so etwas wie trans-identitäre Bündnisse
zu schmieden. Kurzum: In meinen Augen gibt es viele gute Gründe (von
denen im vorliegenden Text noch nicht einmal alle genannt wurden - wie
z.B. ,Rechte Hegemonie angreifen!'), dass diese Jahr die Musik in Thüringen
spielt. Indes: Es ist zu spät. Beträchtliche Teile der bisherigen Grenzcampvorbereitung
(darunter viele der Altvorderen) haben sich verabschiedetet und bereiten
mittlerweile die Schill-Y-Out-Days in Hamburg vor. Dies ist - allen
Differenzen zum Trotz - für das diesjährige Grenzcamp ein gewaltiges
Manko, einmal ganz davon abgesehen, dass alles dies keine Meisterleistung
auf dem Feld politischer Kultur gewesen ist. Und dennoch - da beißt
die Maus keinen Faden ab -,es ist so, weshalb uns gar nichts Anderes
übrig bleibt, als die politische (!) Auseinandersetzung zu suchen, droht
doch anderernfalls einmal mehr ein spießiges (weil voneinander abgeschottetes)
Nebeneinander autonomer KleingärtnerInen. In diesem Sinne rufe ich Euch
an, Ihr RitterInnen des Streits, welche Ihr ja laut Selbstauskunft seid:
Brecht Eurer Land-in-Sicht-Schweigen, hört auf, Gerüchte zu streuen,
nenntt Roß und ReiterIn, sagt, weshalb ein Grenzcamp in Thüringen in
Euren Augen eine politische Sackgasse darstellt. Inhaltliche Textmasse,
auf die Ihr Euch beziehen könnt, gibt es ja mittlerweile hinreichend
viel!
Gregor Samsa
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