Oberbaumbrücke
bleibt Stadtringlücke!
So lautete die
Ansage, mit der vor 30 Jahren, am 4. Juli 1992, die Oberbaumbrücke
besetzt wurde. Initiatorin der Besetzung war die "Brückenini",
die die Schließung des Innenstadtringes verhindern wollte. Dieser
stand symbolträchtig für die Hauptstadtwerdung Berlins samt
seiner Folgen, die sich nicht auf sich zukünftig durch den Kiez schlängelnde
Autolawinen beschränken sollten. Befürchtet wurde vor allem
die Verdrängung alteingessener Kreuzberger_innen durch rapide steigende
Mieten. Hatten doch bereits einige Immobilienbesitzer ihre Gewerbemieten
mal eben um 400% erhöht, nur weil Kreuzberg nach dem Mauerfall Teil
der Berliner Innenstadt wurde. Die Besetzung war nur eine von vielen Aktionen,
die die beginnende Gentrifizierung aufhalten sollte. Lautstarke Demos
führten durch den Kiez, Bagger brannten und sogar ein Bauschiff der
Fa. Kemmer wurde versenkt... - eine Zeitlang stand die Brücke im
Zentrum der Bewegung gegen Umstrukturierung.
Am 9. November 1994 wurde die Oberbaumbrücke dann vom damaligen Bezirksbürgermeister
Peter Strieder und dem regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen
feierlich geöffnet. Von da an rollten die Autos und die Brückenini
konstatierte: "Wir haben den Kampf gegen die Öffnung der Oberbaumbrücke
verloren". Aber ihre Erfahrungen, die sie während dieser Zeit
gesammelt hatten, wollten sie "nicht in den Gully fegen". In
einem zwölfseitigem Auswertungspapier (siehe unten) ließen
sie ihren dreijährigen Kampf (Oktober 1991 bis November 1994) Revue
passieren. Eine spannende Geschichte, die wir euch anlässlich des
30 Jahrestages der Besetzung der Oberbaumbrücke mit Fotos aus dieser
Zeit erzählen wollen.
Die ersten Monate
nach dem 9.11.89 sind aufregend, aber noch ungewiss. Die Anwohnerinnen
der Berliner "Mauernischen" können die neue Situation genießen;
es passiert viel, wir spüren den "Hauch der Geschichte".
Im Sommer 1990 zeigt das ausgebrochene Hauptstadtfieber erste Wirkungen
bei Stadtplanerinnen, dem Verkehrssenat, den Bezirkspolitikerinnen und
den Gewerbetreibenden. Zuerst ist es der Bezirk Kreuzberg, der Druck auf
den Senat ausüben will. Die Oberbaumbrücke soll schnellstens
saniert werden und zwar nach altem Vorbild: Auf dem Wasser sollen die
Schiffe fahren, in der Mitte Fußgänger- und Autoverkehr und
darüber die U-Bahn.
Der Senat ist diesem Wunsch nicht abgeneigt, hat aber darüber hinausgehende
Vorstellungen. Die Sanierung muss den heutigen Verkehrsansprüchen
gerecht werden. Von hier geht dann die Planung, genährt durch neuerliche
Fieberschübe, mit gewaltigen Ansprüchen weiter. Einen wichtigen
Verkehrsknotenpunkt stelle die Oberbaumbrücke dar und deswegen müsse
hier ein Innenstadtring, der eigentlich auch schon da sei, ausgebaut und
realisiert werden. 150 Millionen veranschlagt der Senat großzügig.
Doch erst mal passiert nach außen sichtbar gar nichts, da der noch
amtierende Ostberliner Magistrat Projektvorlagen erstellen soll.
In diesem Sommer 1990 spüren die Anwohnerinnen der Schlesischen Straße
als erste, was es bedeutet, wenn "zusammenwächst, was zusammengehört".
Immer stärker werdender Autoverkehr, Krach und Gestank bis zum Erbrechen.
Es wird eine Bl "Blechlawine" gegründet und zusammen mit
dem "Büro für ungewöhnliche Maßnahmen"
wird ein Frühstück auf der Straße veranstaltet.
Mit der offiziellen Verschluckung der DDR durch die BRD (3.10.1990) gibts
eine Neuauflage einer schon mal dagewesenen glückbringenden Politik:
Straßenbau, Autobahnbau und Autos für alle. Mit der Berliner
Abgeordnetenhauswahl (Dez. 1990) betritt ein neuer Verkehrssenator die
Bühne: Herwig Haase (CDU), Repräsentant einer Senatsverwaltung,
in der keine Frau eine entscheidende Funktion hat.
Fieberträume werden wahr, Berlin wird alte/neue Hauptstadt. Falls
es Regierungssitz werden soll, dann müssen die Berlinerinnen erst
mal ihre Verkehrsverbindungen besser auf die Reihe bringen. Kein Bonner-
kommt freiwillig in die Sackgassenstadt, die von Provinzlerinnen regiert
wird. Die sollen sich erst mal durchsetzen und ihren Bürgerinnen
Verzicht und Unterordnung beibringen. Ein Leckerbissen soll der Innenstadtring
mit der hübsch restaurierten Oberbaumbrücke werden. Dann ist
Ruhe im Karton, sprich Regierungsviertel, in dem nur noch 20% der Wege
durch Autoverkehr erledigt werden sollen.
Bis zum Spätsommer '91 gibts erste Ergebnisse. Die Oberbaumbrücke
soll vierspurig ausgebaut werden, ansonsten aber soll die alte Backsteinromantik
wieder aufleben. Die Straßenbahn lehnt Verkehrssenator Haase ab,
die U-Bahnlinie wird ausgebaut.
Die betroffenen Bezirke (Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Mitte, Tiergarten,
Schöneberg und Kreuzberg) sind gegen den beschlossenen Innenstadtring.
Doch das interessiert den Senat nicht. Die betroffenen Straßen waren
- trotz Mauer - immer bezirksüberschreitende Hauptverkehrsstraßen;
die Planungs- und Entscheidungsgewalt nach einem möglichen Wegfall
der Mauer, blieb damit beim Senat.
Im August/September tauchen erste Bagger und Vermessungstrupps an der
Oberbaumbrücke auf. Die Planung ist noch nicht genehmigt; für
den Abriß der Brücke werden 10 Millionen DM in Aussicht gestellt.
Erster Widerstand regt sich: ein Bagger wird abgefackelt, die Brückenini
gründet sich. Sie besteht aus Anwohnerinnen, autonomen Hauptstadtgegnerinnen
und Autoverkehrsgegnerinnen. Ziel der Ini ist, den Ausbau der Oberbaumbrücke
zur vierspurigen Autostraße und somit den Innenstadtring verhindern.
Die Brücke soll zur Wiese werden; Fahr-radfahrerlnnen und Fußgängerinnen
dürfen sie benutzen, Cafes und Ruheplätze soll es geben.
Als erste Aktion läuft ein Esel vom Kinderbauernhof mit den Kindern
und den Erwachsenen der Brückenini durch die Wrangelstraße
und lädt zum Straßenfest an der Brücke ein. Zusammen mit
der AL Kreuzberg wird zum zweiten Mal öffentlich auf die zu erwartende
Katastrophe Oberbaumbrücke und Innenstadtring aufmerksam gemacht.
Die AL steht direkt am Schlesischen Tor; die Brückenini näher
an der Brücke. Gewünschte Verkehrsblockaden kommen jedoch nicht
zustande. Im Winter 91/92 wird hauptsächlich Aufklärungsarbeit
im betroffenen Kiez durch flächendeckendes Flugblattverteilen geleistet.
Eine Party bringt Kleingeld für die ersten Ausgaben.
Zur gleichen Zeit finden Bürgerversammlungen von Bürgervereinen
zum Thema statt. Zuständige Ausschüsse der BW Kreuzbergs beraten,
der Bürgermeister Strieder (SPD) ist gegen den vierspurigen, aber
für den zweispurigen Ausbau der Oberbaumbrücke. Das Bezirksamt
Friedrichshain ist komplett gegen die Ausbaupläne des Senats.
Aus dem Verkehrsbereich des Vereins SO 36 und aus der Bl Blechlawine gründet
sich im Januar '92 das Innenstadtringbündnis. Zusammenschließen
tun sich alle Verkehrsinitiativen im Innenstadtbereich: Organisationen
wie Grüne Liga, ADFC, Grüne Radler, BUND, Robin Wood, Stadtteilgremien
von AL und PDS und zuletzt Basisgruppen wie WBA Prenzlauer Berg und die
RADikalen. Die Brückenini arbeitet im Bündnis mit. Vorbereitet
wird eine große Fahrraddemo am 10.Mai über den gesamten Straßenverlauf
(18 km) des geplanten Innenstadtrings. An der Strecke sollen viele Straßenfeste
stattfinden.
Wir, die Brückenini, organisieren das Straßenfest an der Oberbaumbrücke.
Die Zusammenarbeit mit "reformerischen" Kräften stellt
für uns zunächst kein Problem dar. Geht es doch darum; mit vielen
Autowahn- und Autobahngegnerinnen zusammen zu demonstrieren. Das zentrale
Aufrufplakat mobilisiert im Mittelpunkt zu einer Menschenkette; hiermit
haben wir ideologische Schwierigkeiten. Damit auch unsere autonomen Freundinnen
angesprochen werden, drucken wir ein eigenes Plakat, mit gewalttätigerem
Outfit. Im Nachhinein meinen wir, daß mit diesem Plakat der Konflikt
zwischen reformerischer und autonomer Politik nur zur Seite gedrängt
wurde. Dieser Konflikt wurde nie richtig gelöst, fiel uns auch immer
wieder auf die Füße. Wir haben uns ständig in dieser Grätsche
"Bündnispolitik versus autonomer Gruppe" bewegt.
Ein weiteres Problem dieser Grätsche platzt in die Vorbereitungen.
Aus der autonomen Szene kommt der Vorschlag, die 1. Mai-Demo mit einem
Fest an der Oberbaumbrücke enden zu lassen. Da eine Eskalation am
Ende zu erwarten ist (siehe 87-90), wäre dieser Höhepunkt an
der Brücke doch zu begrüßen. Eine Diskussion unter uns
wirft drei Fragen auf: Was bringt politisch mehr? Was ist taktisch klüger?
Was für ein Arbeitsaufwand bedeuten zwei Feste kurz hintereinander?
Wir entschieden uns für die Bündnisaktion am 10 Mai, einerseits
weil es uns als zuviel Arbeit erscheint, zwei Feste in so kurzem Abstand
zu organisieren; zum anderen fürchten wir, daß wir uns eventuelle
Sympathien der Nachbarinnen und potentiellen Verbündeten verscherzen.
.
Zu unserer Erleichterung war der 10. Mai ein voller Erfolg, mit breitem
Protest bis zu Widerstandsaktionen von ca. 20 000 lnnenstadtring-Gegnerlnnen.
Zu dem Problem Menschenkette wurden wir zumindest an diesem Tag eines
besseren belehrt. In Friedrichshain und Prenzlauer Berg wurde aus der
15 minütigen Menschenkette eine zweistündige Blockade des gesamten
Straßenverlaufs. Die Bullen hatten schon nachmittags die Kontrolle
über den geplanten Innenstadtring verloren.
Die Stiftung "Umverteilen!" ist die Eigentümerin des Hauses
Falckensteinstraße 46, dem nächstgelegenen Wohnhaus an der
Oberbaumbrücke. Sie erklärt sich bereit, das finanzielle Risiko
einer Klage beim Verwaltungsgericht gegen die Brückenplanung zu tragen.
Die Ausarbeitung der Klage übernimmt ein Anwaltsbüro, die Brückenini
übernimmt die Koordination und Zuarbeit und bemüht sich um Öffentlichkeitsarbeit
und das, obwohl die meisten in der Gruppe kein Vertrauen in die Justiz
haben.
Im Sommer '92 vermehren sich die Gerüchte, daß der Abriß
der Brücke vermutlich im August oder September beginnen soll. Die
10 Mio. sind bewilligt. Für den Aufbau sind weder Planung noch Etat
klar. Es gibt einen Konflikt zwischen der SPD und der CDU über die
Frage der Straßenbahnführung über die Brücke. Beide
sind für den Autoverkehr über die Brücke, die SPD will
noch zusätzlich die Straßenbahn als Konzession an Umwelt und
eigene Bezirksgruppen, die CDU ist dagegen.
Menschen aus dem Innenstadtringbündnis, deren Hauptbestreben in der
Durchsetzung der Straßenbahn besteht, machen im Juni eine theatralische
Eröffnung der Oberbaumbrücke mit einer selbstgebastelten Holz-Straßenbahn.
Wir haben keinen Bock auf blanken Symbolismus. Die Brückenini und
Leute aus damals noch bestehenden Stadtteilgruppen wollen mehr.
Am 4.Juli wird die Brücke besetzt. Die Senatsverwaltungen sind von
der Besetzung überrascht; stufen sie als sommerliches Happening ein,
das sich von selbst verlaufen wird. Unsere ursprüngliche Befürchtung,
gleich abgeräumt zu werden, trifft nicht zu. So entsteht ein nettes
Dorf auf der Brücke. Das Wetter hat schäbige Gemeinheiten auf
Lager und versucht mehrmals, uns wegzuschwemmen. Trotz dieser vergleichsweise
harmlosen Widrigkeiten wächst das Leben auf der Brücke. Es ist
die autonome Szene, die sich mobilisieren läßt: Sie kommen
mit Schlafsäcken, Musikinstrumenten, Zeit für Nachtwachen und
vollen Kochtöpfen. Das Bündnis Innenstadtring kritisiert die
Besetzung: Sie sei zu lokalpatriotisch und würde abschreckend wirken.
Es kommen jedoch viele Besucherinnen, Anwohnerinnen und Neugierige, die
erst mal schnuppern wollen. Langsame Annäherung, aber auch Lob für
uns und die Sache. Der Bürgermeister und die Baustadträtin von
Friedrichshain besuchen uns und solidarisieren sich mit der Besetzung
der Brücke. Ein Amokfahrer fährt in eine Gruppe von Besetzerinnen
und Besucherinnen. Er behauptet später, einen Parkplatz gesucht zu
haben, obwohl die Brücke durch Betonpoller offiziell gesperrt war.
Diese beiden Umstände (Amokfahrer und der Bürgermeister) bringen
uns in die täglichen Schlagzeilen. Solchermaßen städtische
Bekanntheit läßt die Verwaltung aufschrecken und sie nutzt
die erste taktische Gelegenheit, uns ohne jede Vorwarnung mit riesigem
Bullenaufgebot abzuräumen. In der Innenstadt läuft gerade eine
Mietendemo, an der auch viele Brücken-besetzerlnnen teilnehmen. Der
Zeitpunkt der Räumung wird so gewählt, daß einerseits
viele weg sind, anderseits die Räumung den Demo-Teilnehmerinnen nicht
mehr mitgeteilt werden kann. Die Angst vor der eingetretenen Solidarisierung
sitzt tief. Eine Spontandemo mit etwa 150 Teinehmerlnnen wird brutal zusammengeknüppelt.
Schon am nächsten Morgen ist ein Zaun errichtet, es gibt nur noch
einen kleinen Durchgang für Fußgängerinnen. Wir sind selbstverständlich
stinkig, aber da es passiert ist, müssen wir uns mit der neuen Situation
abfinden. Die Brücke steht ab jetzt für einige Zeit massiv unter
Bewachung. Bis heute dreht der Wachschutz seine Runden über die Baustelle.
Wir bewerten die Besetzung als positive Aktion, sie hat die Oberbaumbrücke
zum Stadtgespräch gemacht und auch was mit dem Innenstadtring auf
die Leute zukommt, konnte weit verbreitet werden. Viele neue Leute stoßen
zu unserer Gruppe. Mit dem sofort auftretendem Konflikt, daß wir
zu groß werden (40 Leute) um als eine Gruppe weiterzuexistieren,
kommen wir nicht klar. Pessimisten gehen davon aus, daß sich das
Problem durch Wegbleiben von selber löst. Andere wollen arbeitsfähige
Kleingruppen, letztenendes wird das Problem ausgesessen.
Nach der Räumung gehts zunächst mit viel Kraft weiter. Der neue
Zaun wird komplett ins Wasser befördert. Eine Kiezdemo bringt über
tausend Leute auf die Beine, Sonntagsspaziergänge an der Baustelle
finden statt. Auch hier ist es die Szene, die sich mobilisieren läßt.
Viele andere Betroffene, die sich in anderen politischen Zusammenhängen
begreifen, oder die gar nicht politisch organisiert sind, winken eher
ab: "Bringt doch eh nix." Die Sonntagsspaziergänge laufen
schon nach 4-6 Wochen aus; die Leute gehen wieder ihrer eigenen, andere
Wege. Aus den Sonntagsspaziergängen wird ein sonntagnachmittägliches
Volleyballspielen auf der Straße vor der inzwischen massiv gesicherten
Baustelle. Aber im Herbst löst sich auch dies Vergnügen auf.
Die Ini nörgelt darüber, daß die Leute so schnell wieder
weg sind. Als Konsequenz daraus beschließen wir, Öffentlichkeitsarbeit
zu machen. Freie Brandwände im Kiez werden erkundet, um große
Transparente aufzuhängen. Da Kletterkünste vorhanden sind, hängt
bald das erste Transparent am Görlitzer Bahnhof, weitere folgen.
Der Termin der Geldfreigabe (72 Mio.) für den Ausbau der Oberbaumbrücke
rückt immer näher, deswegen halten wir es für nötig,
die Bevölkerung zu informieren und zu Aktionen aufzurufen. Wir beteiligen
uns an einer Fahrraddemo zum Verkehrssenator und bei einer großen
Mieterinnendemo agitieren wir gegen Berliner Verkehrspolitik und gegen
den Innenstadtring, ernten .damit viel. Applaus. Wir werden zwar in der
Öffentlichkeit beklatscht, unsere Gruppe schrumpft jedoch mehr und
mehr, bis wir wieder ein Dutzend sind, wie im Frühjahr.
Die Zahl der Stammtischgespräche über Verkehrspolitik wird immer
größer, aber selbständiges Eingreifen von Transparentaufhängen
bis zum Baustellenanschlag findet kaum statt, lediglich des Senators Eigenheim
wird mit Farbeiern verziert. Am 23.9. findet die entscheidende Sitzung
im Senat statt. Eine interessierte Öffentlichkeit ist nicht mehr
vorhanden. Ohne weitere Proteste werden die 72 Millionen für den
Ausbau der Oberbaumbrücke zur Autobahn über den Tisch geschoben.
Beschlossen wird die sog. A7 Variante. Im Herbst nach dieser Entscheidung
geht's auf der Baustelle richtig los; auch autonome Physikerinnen beteiligen
sich nun im Brückenkampf. Ein Bauschiff der Fa. Kemmer wird versenkt.
Es folgen Brandanschläge auf Baustellen dieser Firma, die maßgeblich
beim Ausbau der Brücke absahnt. Im Nachhinein wollen wir sagen, daß
wir es versäumt haben, diese Aktionen in unsere Öffentlichkeitsarbeit
mit ein zu beziehen. Allerdings wissen wir auch nicht, ob dieser Umstand
eine größere Mobilisierung gebracht hätte.
Wie wir einerseits die militante Widerstandsform nicht so recht in unsere
Arbeit mit einbeziehen, beteiligen wir uns andererseits auch nicht an
einem "Bürgerbegehren". Diese Aktion wurde von Bürgervereinen
wie "SO 36" und in Friedrichshain der Gruppe FROLIK durchgeführt.
Die aus unserem Selbstverständnis fast zwangsweise vorgebrachten
Bedenken gegen das Unterschriftensammeln führen bei uns zu langen
Diskussionen. Wir meinen, daß mit dem Ableisten der Unterschrift
die meisten das Problem Oberbaumbrücke für genügend bekämpft
halten und es demzufolge nach getaner Unterschrift vergessen. Deshalb
finden wir es wichtig, weiterhin Öffentlichkeitsarbeit zu machen.
Ein Seniorlnnennachmittag wird veranstaltet, wir beteiligen uns mit einem
Stand an der Ausstellung "Schöne Autowelt" im Kreuzbergmuseum,
Spukis und Flugis werden hergestellt und verteilt, an der neuen Behelfsbrücke
errichten wir eine "Widerstandshütte" (hier stellen wir
uns unseren Agit-Prop-Schwerpunkt vor). Eine Fahrraddemo macht Halt an
der Widerstandshütte und befährt den Innenstadtring. Ende 1992
machen wir eine Plakataktion mit anderen Gruppen auf gemieteten Werbeflächen
längs des Innenstadtrings. Neben "unserem" Thema werden
vom Anti- Olympia Komitee, von Antifagruppen, BUND Jugend und einigen
Kreuzberger Schulklassen die Wände genutzt, um so verschiedene Teilbereichskämpfe
in einer gemeinsamen Aktion nach außen zu bringen.
Innerhalb dieser Aktion taucht ein Phantom auf, das uns zwei Jahre begleiten
wird: Der Plakatabreißer. Er reißt sie ab, von morgens bis
abends, von montags bis sonntags. Wir ertappen ihn auf frischer Tat und
der Mensch, der sich dahinter verbirgt, läßt uns wissen, daß
er in höheren Diensten steht. Quasi telepathisch habe der Regierende
Bürgermeister Diepgen ihn und 250 andere Menschen dazu ausgewählt,
ihren Kiez sauber zu halten. Der zu säubernde Bereich ist schwerpunktmäßig
das Schlesische Tor, reicht aber insgesamt bis zum Görlitzer Bahnhof.
Um seine Aufgabe ins rechte Licht zu rücken: Er säubert die
Gehwege, kümmert sich um überquellende Mülleimer, entfernt
Werbung, die an nicht vorgesehener Stelle klebt. Vorzugsweise aber entfernt
er Plakate, die links von der SPD angesiedelt sind. Wir leben ab jetzt
im Kleinkrieg.
Doch zurück zu unseren eigentlichen Schwierigkeiten/Nachdem wir festgestellt
haben, daß unsere Aktivitäten nur wenig zur Kenntnis genommen
worden sind, noch wir unserem Ziel "Oberbaumbrücke bleibt Stadtringlücke"
auch nur einen Schritt näher gekommen sind, fing eine lange Diskussion
über Sinn und Zweck unserer Arbeit an. Wir philosophierten über
Mobilität, im näheren übers Autofahren, über die Schwierigkeiten,
Verzicht und Kampf zusammenzubringen. Wir diskutierten über Busse
und Bahnen, da das Bündnis Innenstadtring die Forderung nach Öffentlichem
Personen Nah Verkehr (ÖPNV) über die Brücke stellt. Wir
aber sagen: "Die Brücke soll wieder zur Wiese werden!"
Wir bleiben zunächst bei dieser Maximalforderung.
Wie können wir die Szene wieder gewinnen? Mit welchen Mitteln lassen
sich die Anwohnerinnen von ihrer fatalistischen Haltung abbringen? Das
sind weitere Diskussionspunkte. Autonome Szene und sog. Normalos/Normalas
lassen uns immer wieder in die Grätsche gleiten. Stehen wir doch
selber für autonome Politik, so halten wir es aber auch für
notwendig, die Nachbarinnen vor Ort auf unserer Seite zu haben. Aus all
diesen Diskussionen entsteht jedoch kein entsprechendes Handeln. Statt
dessen reagieren wir, etwas träge zwar, auf Anfragen von außen.
Nicht nur uns hat zunehmende Orientierungslosigkeit erfaßt, auch
andere Gruppen leiden darunter. Eine Veranstaltungswoche im SO 36 soll
dem entgegenwirken. Zum Frühjahr gibt es Aktionswochen, die SO TAGE.
Auf der Suche nach neuen alten Formen organisieren wir ein Stadtspiel
rund um den geplanten Innenstadtring. Der "engere Familienkreis"
beteiligt sich wohlwollend bis interessiert an dem Versuch, ein zu bekämpfendes
Objekt sinnlich zu erfahren. Das Innenstadtringbündnis plant wieder
einen Fahrradkorso mit Straßenfesten und will daraus langfristig
eine sich jährlich wiederholende Veranstaltung machen. Trotz anfänglicher
Weigerung, uns noch mal an daran zu beteiligen, bleibt es dann doch, zunächst
nur an Einzelpersonen, letztlich wieder an unserer Gruppe hängen,
das Oberbaumbrückenfest zu organisieren. Unser Bemühen bei solchen
Aktionen ist immer, das Thema Oberbaumbrücke nicht untergehen zu
lassen. Wir sind irgendwie nach wie vor der Meinung, wenn die eigentliche
Bauphase auf der Brücke beginnt, daß es dann von selber abgeht.
Der Baubeginn ist der 5.Juli 1993. Nagel sticht den Spaten. Unsere ganze
Vorarbeit hat anscheinend nichts gebracht: Keine aufgebrachten Massen,
die ihm ins Gesicht spucken. Wir paar wenige sind zwar da und protestieren
lautstark, doch mit Protest kann der Senator umgehen: "..das gehört
zu meinem Geschäft". Also ziehen wir uns leise zurück und
überlegen, wie es überhaupt weiter gehen soll.
Wir stellen fest, daß fast alle wissen, was für ne Katastrophe
auf die Wohnbezirke zurollt, wenn die Oberbaumbrücke zur Autobahn
ausgebaut wird. Was bleibt uns übrig zu tun? Wir halten sinnliche
Wahrnehmung für notwendig, und auf der Suche nach neuen Aktionsformen
stoßen wir auf den affirmativen Protest: Wir simulieren die Öffnung
der Oberbaumbrücke und den dann eintretenden Autostau am Lausitzer
Platz. In der Vorbereitung zu dieser Aktion, zu der wir nicht öffentlich,
sondern durch Mundpropaganda und Spuckis aufrufen, sind wir kritisiert
worden: "...mit Autos kann man nicht gegen Autoverkehr protestieren..!"
Wir beachten diese Kritik nicht und am 9.8.93 gibt es zwar einen Stau,
doch wir sehen auch viele Szeneangehörige ohne ihr Auto am Rande
stehen. Was heißt das jetzt: Haben wir die Kritik nicht genügend
beachtet, oder ist vielen ihr heilix Blechle dann doch zu schade? Oder
ist es Ihnen peinlich, bei einer Aktion, dessen Wert noch nicht so richtig
klar ist, im Auto gesehen zu werden? Am Rand stehend, hatten sie beobachtend
aber offensichtlich viel Spaß...
Ein weiterer Versuch ist es, die anderen Verkehrsinis von uns aus anzusprechen,
mit uns gemeinsame Aktionen zu machen, z.B. zu den verantwortlichen Politikern
zu gehen und in ihrer Nachbarschaft rumzunerven. Bevor wir zu gemeinsamer
Aktion schreiten, ziehen wir probehalber vor Haases Haus in Lichtenrade,
um ihn mit Transparenten, Flugblättern und Verkehrslärm zu ärgern.
Trotz Recherche ist er an diesem Nachmittag nicht Zuhause. Nachbarn vermuten
ihn auf seinem neuen Zweitanwesen im Umland. Diese Nachbarn sind allerdings
sehr interessiert. Sie wohnen nämlich in einer Tempo 30 Zone und
sind genervt, weil Haases Schofför permanent mit 60 übers Kopfsteinpflaster
knallt. Ansonsten wußten sie noch zu berichten, daß Zivis
stündlich nach dem rechten schauen, weil sein Haus schon mal Ziel
einer Farbeiattacke war. Unsere Verstärkeranlage wäre eh zu
leise gewesen und so fahren wir gefrustet (mit der S-Bahn) nach Hause.
Unser Versuch, einen selbstbestimmten Zugang zu den anderen Verkehrsinis
zu finden, scheitert nicht nur wegen dieser mißlungenen Aktion,
sondern auch wegen Urlaub, Arbeitsunfähigkeit und Berührungsängsten
zu "Kreuzberger Chaoten".
Um endlich auch mal an einem Erfolg teilhaben zu können, organisieren
wir mit dem AOK an der Oberbaumbrücke das Anti Olympia Abschlussfest
am 23.9.93 zur Bekanntgabe des Austragungsortes. Unser Anliegen, daß
nun die ganze Kraft auf die Kampagne zur Oberbaumbrücke gelenkt werden
muß, geht im Jubel für Samaranchs Bekanntgabe Sydney 2000 unter.
In diesem November blicken wir auf gut zwei Jahre Zusammenarbeit zurück...und
auf ein Jahr das noch vor uns liegt: Im November '94 soll die Brücke
für vierspurigen Autoverkehr eröffnet werden. Der Gerichtsbescheid
trudelt ein, der Antrag auf Baustopp ist abgelehnt. Damit hatten wir gerechnet.
Wieder mal wälzen wir die ganze Problematik durch: Läßt
sich mit Verzicht agitieren? Warum stellt sich kein Widerstand gegen die
massive Umstrukturierung durch die Hauptstadtplanung ein?
Obwohl wir auch keine Antworten wissen, beschließen wir: Aufgeben
tun wir nicht. Eine andere autonome Gruppe kündigt die Einstellung
ihrer Tätigkeiten zur Oberbaumbrücke an, wir veröffentlichen
im Gegenzug zwei Aufrufe an die Interim Leserinnen.
Trotz kleinerer Aktivitäten lassen wir die Jahreswende still vorüberziehen
und die einzelnen Diskussionsabläufe brauchen hier nicht wiedergegeben
werden. Wir bekommen kaum Reaktion von außen, es gibt ein Treffen
mit Interessierten: "wie geht es weiter", das uns letzten Endes
jedoch auch allein zurückläßt.
Trotz alledem schleicht sich bei uns das Wort Frühjahrsoffensive
ein. Wir verteilen ein Plakat an Läden und Kneipen, an Privatleute,
die Fenster zur Straße haben. Die Hoffnung, die sich dahinter verbirgt:
Wenn die Baustelle erweitert wird (auf Falckensteinstraße/Oberbaumstraße)
dann gibt's vielleicht noch mal kleine und große Knalle. Immer wieder
fragen wir uns, ob wir von der autonomen Brückenini zur "stinklangweiligen
Bürgerinitiative" verkommen sind. Gleichzeitig kriegen wir mit,
daß Stadtteilpolitik eigentlich ganz dahin ist. Wir müssen
kleine Brötchen 'backen. Es bleibt natürlich auch die Frage,
warum sich andere Verkehrsinitiativen nicht radikalisieren - bei der sichtbaren
Verschlechterung von Lebensqualität. Verkehr und Verkehrspolitik
schätzen wir eher so ein, daß die Leute (egal ob sie den Verkehr
als notwendiges Übel oder als dufte Kommunikationsmöglichkeit
verstehen) es nehmen wie das Wetter: Sind die Straßen ruhig und
leer, ist Sonnenschein. Sind sie voll und gestaut, ist Regenwetter und
Hagel angesagt. Zuhause bleiben ist dann am besten. Außerdem hat
der jetzt stattfindende Verkehrsinfarkt immerhin einen Vorlauf von hundert
Jahren Entwicklung, Fortschritt und Politik. Doch zurück zu unserer
"Frühjahrsoffensive".
Eine Veranstaltungsreihe im Kato wird vorbereitet, die die Kiezbewohnerinnen
noch mal aktivieren, reaktivieren oder vielleicht sogar radikalisieren
soll. Geplant sind ein Informationsabend, ein Filmvergnügen und eine
Lesung. Der Informationsabend verspricht Erfolg, es sind viele interessierte
Menschen gekommen, die sofort was tun wollen. Eine Blockade des Schlesischen
Tores wird vorgeschlagen. Ein paar Tage später findet sie statt,
es sind auch andere Menschen außer uns da. Die erste Blockade ist
sehr nett und es wird beschlossen, sie in einem 14 tägigen Rhythmus
bis zur Eröffnung zu wiederholen. Wir versprechen uns davon zunehmende
Mobilisierung, haben wir doch endlich eine Aktion gefunden, die nach unserem
Geschmack ist. Leider passiert, was viele kennen: Die Verantwortung wird
an die Gruppe übergeben, die "zuständig" ist. Nicht
aus Bosheit, sondern wir sind doch die Brückenini, während die
anderen Leute sich einzeln empfinden. Selbstverständlich waren wir
sauer, daß die Eigenverantwortlichkeit nicht durchschlägt.
Dennoch haben wir brav an jedem zweiten Dienstag Lautsprecherwagen, Flugblätter,
Transparente angeschleppt. Wir haben eine Situation wie an Speakers Corner
hergestellt, JedeR durfte ins Mikro erzählen was ihn/sie bedrückt
und wie sie/er die Situation empfindet. Die Blockade lassen wir so schrumpfen,
daß wir bei der Grünphase für Fußgängerlnnen
ein Transparent hochhalten. Im Katz-und-Maus-Spiel mit der Obrigkeit versuchen
wir dann, den Verkehr noch kurz aufzuhalten. Nach einiger Zeit haben wir
das ganze im Abo angemeldet, weil die Bullen immer wieder mir Anzeigen
drohten, bzw. auch einige losgeschickt haben. Wegen der Bescheidenheit
unserer Aktion fanden wir den legalen Rahmen sinnvoller, als Geldstrafen
für eine institutionalisierte Protestform in Kauf zu nehmen. Die
Meinung in unserer Gruppe über Sinn und Unsinn dieser Aktion ging
immer wieder auseinander. Diese Aktion hat uns so wie die Besetzung vor
zwei Jahren am meisten Zulauf gebracht. Einerseits liegt dies an unserer
Beharrlichkeit und hin und wieder hat es ziemlichen Spaß gemacht,
mit sowenig Mitteln die Verhältnisse am Schlesischen Tor zum Tanzen,
vielmehr zum Erliegen, zu bringen.
Wer immer noch nicht müde ist, kann sich an den Sommer '94 erinnern.
Auch wir waren nicht dumm und haben viele Siestas eingelegt (außer
dienstags beim Blockieren, da gings oft bis zur Atemnot). Nach dieser
kleinen Traumpause kommt die Vorbereitung und Auswertung des Finale Grande,
Eröffnung und damit augenscheinlich letzter Protest am 9.11: Es war
ein gelungener Tag und verloren haben wir trotzdem.
Im September, acht Wochen vor Eröffnung der Oberbaumbrücke,
veranstalten wir ein erstes gemeinsames Vorbereitungstreffen. Gemeinsam
heißt in diesem Fall, daß wir Leute einladen aus dem Radler-
und Verkehrsgruppenspektrum, Leute aus AL und PDS und Menschen aus autonomen
Zusammenhängen. Wir finden es schade, daß niemand von den letztgenannten
kommt, weil uns so jede Einschätzungsmöglichkeit für die
Aktionen an dem Tag fehlt. Außerdem versuchen wir Menschen aus dem
Antifa-Bereich zu erreichen, da der 9.11. der Jahrestag des faschistischen
Pogroms von 1938 ist. Leider kommt dieser Kontakt erst sehr spät
zustande, so daß beide vorbereitenden Gruppen nicht mehr von ihren
Planungen abweichen wollen. So kommt es zu einer unglücklichen Dopplung
von Demos an diesem Tag.
So haben wir mit dem oben genannten Spektrum, also ohne Autonome und ohne
Antifas, unsere Aktionen für den 9.11. vorbereitet. Es wurde sehr
hektisch in den letzten Tagen. Die Presse, die wir drei Jahre irgendwie
erreichen wollten, meldete sich endlich: Plötzlich sind wir interessant.
Dann auch noch ne Knetefete, Fahrraddemo und Pressekonferenz.
Und schon ist der Eröffnungstag da. Klappt das Ding mit der Kartenvermehrung,
wo sperren sie ab, wie sind die Bullen drauf, wie ist der offizielle Programmablauf
und wann und wie wird zugeschlagen. Am Rand der offiziellen Eröffnung
verbreitet sich eine gewisse Straßenfeststimmung mit einem Haufen
phantasievoller Aktionen und viel Publikum, Politszene und Ökoszene
sind 50/50 vertreten. Es klappt nicht nur, es macht auch Spaß. Und
wir verzögern den vierspurigen Nomalzustand auf die Brücke um
ein paar Stunden.
Abends, eine Demo. Die erste Idee, sie für eine ein- bis zweistündige
Belagerung der Brücke auszunutzen, ist nicht ausgereift; von Bullenseite
ist es außerdem auch sonnenklar, daß sie uns schon gar nicht
auf die Brücke lassen. Die 2500 Demonstrantinnen marschieren dann
eher locker als geschlossen, eher gelassen als laut. Wir hätten sie
gerne mit dem Abschlussredebeitrag beschimpft (Nach dem Motto: Wo wart
ihr die letzten drei Jahre?), finden doch einen viel sanfteren Ton und
nach offizieller Auflösung der angemeldeten Menschenversammlung ziehen
wir den Lauti aus der Gefahr und uns selber aus der Verantwortung. Wir
sind genauso gespannt wie fast alle Teilnehmerinnen, wie/ob es weiter/losgeht.
- Papier der Brückenini vom November 1994 -
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