Umbruch Bildarchiv: Katmandu, Nepal -1993 / 1213j
© Fotos und Texte von Otto Göpfert (siehe unten)


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Seelenbohrer

 

"Was treibt Sie in dieses gottverlassene Nest?" fragte mich der Deutsche. Das mit dem "gott-verlassen" war gewiß eine Untertreibung, denn laut Reiseführer ist Khajuraho mit seinen Chandella-Hindutempeln aus dem neunten bis dreizehnten Jahrhundert ein Höhepunkt einer Indienreise - sozusagen ein Muß für den gebildeten Reisenden, für alle Indologen oder Ar-chäologen oder wie sich die Zunft jener interessierten Wissenschaftler nennt, die penibel mit einer mir unverständlichen Begeisterung jeden Stein und Knochen einer Altertumsstätte konservieren, numerieren, archivieren und hernach mit Akkuratesse zahllose Abhandlungen darüber verfassen - selbstverständlich nur für ihresgleichen, nicht etwa für das "ungebildete Volk", denn: erhöht EURESGLEICHEN, und IHR werdet erhöht werden. Und was hieß "gottverlassen"? War diese Tempelstadt nicht die Heimat der Götter?

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Der grauhaarige, jugendlich wirkende Deutsche stellte sich mir vor: "Hans Lobinger!" Er überreichte mir seine Visitenkarte: Dr. phil., und darunter, klein und kursiv, betont unauffällig gedruckt: Dipl. psych. Er kam aus Hoyerswerder. Der Teufel mag wissen, wo das Nest liegt - wenn nicht an der Weser.
"Fred Winter", stellte ich mich vor, "dreißig Jahre in Berlin, umwelt- und kontaktgeschädigt, politisch nun enttäuscht, vor allem von den Umständen der 'deutschen Wiedervereinigung', beruflich von ihren Folgen wegsaniert, von den Damen verlassen, nun abgeschabt."
Der Deutsche lachte: "Ich lebte während der unruhigen Achtundsechziger zehn Jahre in Berlin. Diese Zeit war nicht schlecht, aber dann wurde es kritisch."
Kritisch für wen und weshalb? Er sagte es nicht. Der Deutsche hatte die ungesunde, blasse Gesichtsfarbe der im Öffentlichkeitsbereich tätigen Männer: der Journalisten, Rundfunk- und Fernsehreporter, P.R.-Manager - und der Psychotherapeuten. Nicht der Dr. phil. - das philosophische Denken - hatte sein Gesicht blutarm gemacht: es war der Dipl. psych., der an seinem Lebensnerv nagte. Das sah ich mit schnellem Blick; darin bin ich geübt, in der Psychologie kenne ich mich aus, nicht umsonst habe ich sechs Jahre lang Graphologie studiert.

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Was will ein Dipl. psych. am Tempelort der alten Chandella-Tantriker? Er mußte hier mit seiner Seelentherapie ins Leere stoßen, denn alles, was er an diesem Ort fand, war reine, unzerstörbare Seele, die keiner heilenden Massage bedurfte. Was stand ungeschrieben an jeder Tempelwand? Kein ICH und kein SELBST! Diese Maxime des hinduistischen Glaubens bedurfte keiner näheren Erläuterung - höchstens der, daß die Entwicklung des Menschen hin zur Spaltung in Ich und Selbst - zum Dualismus - von der Natur nicht beabsichtigt und die Quelle aller Krankheiten ist. Die Weisen mögen sich darüber streiten, aber Weise streiten nicht, und der Dipl. psych. durfte sich über diese Entwicklung nicht beklagen, denn er verdiente in Europa sein gutes Brot an den lädierten Ichs und Selbst' seiner leidenden Patienten, den Millionen von Ich-Unterdrückten und Selbstwert-Geschädigten. Der Deutsche gehörte nicht an diesen Ort; wir gehörten beide nicht hierher. ICH BIN ICH - das war unsere beklagenswerte gemeinsame Lebensmaxime.
"Was treibt Sie hierher?" wiederholte er seine Frage.
"Sie werden lachen: der Zufall trieb mich hierher, oder der Reiseführer, um genau zu sein. Und nicht zuletzt der unbezähmbare Drang nach Weite."
Der Deutsche lachte. Der Schlaukopf fand mich witzig, und das ärgerte mich. Sage ich die Wahrheit, glauben mir die Menschen nicht. Lüge ich, reichen sie mir zustimmend die Hand.
"Sie lachen", sagte ich, "aber ich kam zu Khajuraho wie die Jungfrau zum Kind."
"Na, dann packen Sie mal aus!" Er wurde neugierig. Als Seelenarzt sah er mich bereits auf seiner dörflichen Couch in Heuerswerder liegen: Eine Stunde bitte! Denken Sie nicht, empfinden Sie! Reden Sie spontan über das, was Ihnen auf dem Magen liegt!
Ich sagte: "Die Cholera hatte mich in Nepal erwischt. Ich kotzte Wasser, und die Seele entwich klammheimlich meinem leidenden Darm. Leute, die mich gut kennen, behaupten, ich besitze keine Seele, sei seelenlos geboren. So oder so: als seelenloses Wesen gehöre ich nicht an diesen Ort - ein Sakrileg! -, und mein Problem ist für alle Dipl. Psych's ein- und für allemal gelöst."
"Sie hatten einen Flug?" - Ha!, wie Psychologen bohren können! Ich begann mich an den Seelenbohrer zu gewöhnen.
"Man landet oft dort, wo man nicht hin will."
Das war altklug, aber der Deutsche verzog keine Miene.
"Ich lag in meinem Hotelbett, und wenn ich nicht gerade litt, blätterte ich im Reiseführer: wie komme ich raus diesem ewig verstaubten Katmandu? Bis ich erstaunt las: 'Flug nach Khajuraho - ruhiges, friedvolles Dorf in der Ganges-Ebene, von freundlichen Göttern bewohnt. Wohltuender Kontrast zum hektischen und touristisch verdorbenen Agra und Delhi.' Das war die Lösung! Ich buchte und flog, und nun bin ich hier. Dieser Ort ist peaceful, und ich kommuniziere in Ruhe mit den Göttern. Wir haben uns viel zu sagen, und die Tempel gibt's als angenehme Zugabe gratis zum Nachttisch - als Zubrot und leckeren Bonbon zum einfallslosen indischen Landdiner."
Der Deutsche lachte - seiner Dünnblütigkeit und der blassen Gesichtsfarbe zum Trotz. Er war ein humorvoller Fachidiot. Weit über die Vierzig war er nicht, der Spezialist aus Hoyerswerder.
"Und was treibt Sie hierher?" fragte ich.
Er schwieg. Alle Psychologen schweigen, wenn man ihr Seelenleben befragt.

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Ich konnte mir meine Frage selbst beantworten: Er machte an diesem friedlichen Götterort "Ferien vom Ich". Keine Ichs und Selbst' und somit keine Problemfälle: keine Profilneurosen, keine überfüllten Sprechstunden zivilisationsgeschädigter Patienten. Sich laben an der friedvollen Stätte an der heilen Seele der Götter!
"Alles ist reine Seele hier!" sagte ich und neigte andächtig mein Haupt.
Der Deutsche schaute mich forschend an. Begann er an meinem Geisteszustand zu zweifeln?
"...Unverdorbene, von Denken und Wollen und Streben unberührte Seele - das Seelchen einer Biene oder Ameise, die Seele eines Blütenkelchs - und die eines Chandella-Tempels."
Der Deutsche unterdrückte ein Gähnen: "Die Chandella-Tempel sind von Menschenhand ge-schaffen, vergessen Sie das bitte nicht!"
"Wozu einen Unterschied machen?", sagte ich, "ob von der Natur geprägter oder von Men-schenhand geformter Stein: alles atmet und ist beseelt. Alles ist Leben, ist Bewegung - auch das, was dem menschlichen Geist tot erscheint. Nebenbei gibt es in der Kunst keine Form, die nicht der Natur entlehnt ist; und hier in Khajuraho haben die Götter dem Menschen jedenfalls die Hand geführt. Alles ist Form, ist Aus-Druck..."
"Ausdruck von was?"
"Ausdruck eines inneren Gesetzes - einer schöpferischen Grundordnung, die allem Leben und aller scheinbar toten Materie innewohnt." Ich kam in Rage: "Dieses Gesetz kann genau so gut aus dem archaischen Antlitz eines Ziegenhirten sprechen wie aus dem aus Stein geschnittenen Götterwesen; aus der machtvollen Weite der Rajasthan-Wüste ebenso wie aus der schäumenden Brandung der Arabischen See an der Küste Goas. Es mag ein menschliches Antlitz sein, in das es seine unübersehbaren, ausdrucksstarken Runen geschnitten hat, ein mächtiger Fels in der Brandung, den das Wasser in Jahrmillionen geformt hat, oder die schneeweißen Dünen bei Sam in der Thar-Ebene, die der Wüstensand zu einem mächtigen Meer geformt hat mit Millionen Wellen, erstarrt in einem einzigen Moment der Ewigkeit. Alles ist Ausdruck, vom Geist geprägte Form. Ich brauche prähistorische Knochen und Steine nicht zu ordnen. Die unsterbliche Seele ist nicht katalogisierbar!"

"Es war keine schlechte Zeit, die ich in Berlin verbracht habe" sagte der Deutsche und erhob sich. Er nickte mir kurz zu: "Es ist ein kleines Dorf hier. Ich meine, man sieht sich wieder!"

Aber er meinte es nicht ernst, denn ich sah ihn nicht wieder.

Ende

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