Erinnerung an Cemal Kemal Altun. Gedenkstein in der Hardenbergstraße 20 in Berlin
Foto: Ute Kurzbein/Umbruch Bildarchiv
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Der türkische Student und Sozialdemokrat Cemal Kemal Altun hatte 1981 wegen politischer Verfolgung Asyl beantragt. Die türkischen Behörden stellten einen Auslieferungsantrag wegen der angeblichen Beteiligung an der Ermordung eines Zollministers in der Türkei. Die deutschen Behörden kooperierten mit der türkischen Militärjunta und sperrten den politischen Flüchtling in Auslieferungshaft.
Obwohl er im Juni 1983 als politisch Verfolgter anerkannt wurde, blieb er auch nach 13 Monaten Auslieferungshaft in der Justizvollzugsanstalt Moabit weiter in Gefangenschaft. Trotz zahlreicher nationaler und internationaler Proteste für die Freilassung des Flüchtlings wurde das Auslieferungsverfahren weiter betrieben.

Es war am 30. August 1983, dem zweiten Tag der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Berlin, als Kemal Altun zum Fenster rannte und sich aus dem 6. Stock in die Tiefe stürzte. Er wurde 23 Jahre alt. Die Erschütterung und Empörung über den Umgang mit Kemal Altun war groß, und Tausende DemonstratInnen forderten uneingeschränktes Asylrecht für politisch Verfolgte und menschenwürdigen Umgang mit Asylsuchenden.

Seit Juni 1996 erinnert ein Denkmal vor dem Gebäude des damaligen Verwaltungsgerichts an die Tragödie des Kemal Altun. Es ist aus hartem Granitstein und zeigt einen kopfüber herunterstürzenden Menschen mit ausgestreckten Armen. Es erinnert auch an 25 Menschen, die sich seit der Änderung des Grundgesetzes (der faktischen Abschaffung des Asylrechts) im Jahre 1993 aus Angst vor der Abschiebung umbrachten (tatsächlich waren es mindestens 48 Menschen in dem besagten Zeitraum)*.

Bis Ende 2007 dokumentiert die Antirassistische Initiative Berlin 149 Flüchtlinge, die sich angesichts ihrer drohenden Abschiebung töteten oder bei dem Versuch starben, der Abschiebung zu entkommen.

Insgesamt sind im Zeitraum von 1993 bis 2007 durch staatliche Maßnahmen 370 Flüchtlinge zu Tode gekommen. Zu den staatlichen Maßnahmen zählt die Antirassistische Initiative Todesfälle vor und an den deutschen Staatsgrenzen, Todesfälle während und nach der Abschiebung und Selbsttötungen aus Angst vor der Abschiebung.*

Die Chancen für Flüchtlinge, in der BRD Schutz und Sicherheit zu finden, sind seit 1983 drastisch geringer geworden. Einerseits durch die militärisch überwachten Grenzen – andererseits durch immer neue und verschärfte Abschottungs- und Asylgesetze und schließlich durch den unerschütterlichen Abschiebewillen des Staates. Eine der "Erfolgsmeldungen" des Bundesinnenministerium war die Nachricht, dass die Zahl der Flüchtlinge, die im Jahre 2007 Asyl beantragten, mit 19.164 die niedrigste seit 31 Jahren war. Zugleich wurden bei 28.572 Entscheidungen des Bundesamtes nur 304 (!) Personen als Asylberechtigte anerkannt (1,1 %). 6.893 (24,1 %) Menschen erhielten einen Abschiebeschutz nach § 60 Abs.1 des Aufenthaltsgesetzes. Im Gegensatz zum vorigen Jahr hat sich diese Zahl der Zuerkennung des Abschiebeschutzes zwar deutlich erhöht (Im Jahre 2006: 1.097 = 3,6 %), aber angesichts der ca. 200.000 langzeitgeduldeten Flüchtlinge, die seit zehn und fünfzehn Jahren – oft in der zweiten Generation – mit kurzfristigen Duldungen abgespeist werden und kein Aufenthaltsrecht bekommen, ist auch diese Zahl ein Ausdruck des menschenverachtenden Schikanesystems der Behörden.

Unerträgliche Lebensbedingungen für Flüchtlinge

Die Lebensbedingungen für Flüchtlinge sind heute brutaler denn je. Eine behördliches Netz von Schreibtischtätern und ein Heer von Polizei- und Bundespolizei stehen dem einzelnen Flüchtling gegenüber. Flüchtlinge werden hinter Stacheldrahtzäunen zu Hunderten kaserniert – mit dem Verbot, den Landkreis zu verlassen (Residenzpflicht). Arbeitsverbot, Fresspakete, Taschengeldzuteilung und Behördenschikanen tun ihr übriges, um den Menschen deutlich zu machen, welchen Stellenwert sie in dieser satten Gesellschaft haben. Ganz unten! Keine Rechte, kein Geld, keine Selbstbestimmung, keine Bewegung, keine Perspektive. Am Ende des Aufenthaltes in der BRD steht dann die Abschiebung, durchgesetzt mit allen Tricks und vor allem mit Gewalt.

Abgesehen von den überraschenden nächtlichen Abholungen aus den Wohnungen mit großem Aufgebot und deutlichen körperlichen Gewaltmaßnahmen, werden Menschen auch direkt bei Behördenterminen verhaftet oder aus ihren Betten in psychiatrischen Kliniken zur Abschiebung weggeschleppt. Einige Flüchtlinge werden zur Einnahme von Beruhigungsmitteln genötigt oder vor Injektionen gar nicht gefragt. Minderjährige Kinder werden durch die Abschiebung von Mutter oder Vater getrennt. Angesichts der drohenden Abschiebung und deren vorhersehbaren Folgen gehen viele Menschen in die Illegalität. Vordergründig haben sie sich dadurch dem Zugriff der Abschiebebehörden entzogen – die Festnahme der jetzt per Haftbefehl Gesuchten ist dann aber oft nur noch eine Frage der Zeit.

Menschen, die im Asylverfahren rechtlich als Flüchtlinge anerkannt wurden, müssen seit einigen Jahren damit rechnen, dass ihr Status widerrufen wird und sie ihre erkämpfte Sicherheit und Existenz wieder verlieren. Allein von 2004 bis 2007 wurden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 51.887 Widerrufsverfahren eingeleitet und 41.639 Flüchtlingen der Aufenthaltstitel aberkannt.

Zunehmend gefährlich werden für anerkannte politische Flüchtlinge Auslieferungsersuchen der Verfolgerstaaten (v.a. der Türkei). Betroffen sind Menschen, die, ähnlich wie Kemal Altun, aufgrund ihrer nachgewiesenen Folter- und Verfolgungserlebnisse Asyl zuerkannt bekamen und plötzlich durch die Festnahme in die akute Gefahr geraten, in den Verfolgerstaat ausgeliefert zu werden. Ende 2007 wurden tatsächlich die ersten beiden politischen Flüchtlinge in die Türkei ausgeliefert. Dort kamen sie direkt in Gefangenschaft – ihnen stehen langjährige Haftstrafen bevor.

Der 15-Jahres-Rückblick der Dokumentation "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen"*, in der über 5.000 Einzelschicksale beschrieben werden, macht die gravierenden Auswirkungen des staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus auf die Betroffenen deutlich; auf Flüchtlinge, die gehofft hatten, in diesem Land Schutz und Sicherheit zu finden, und letztlich an diesem System zugrunde gingen oder zu Schaden kamen.

Europas tödliche Grenzen

Mit der rigiden Flüchtlingspolitik steht Deutschland nicht allein. Im Gegenteil – die wirtschaftsstarken Länder der Europäischen Union (EU) sind sich einig und fordern von ärmeren Beitrittsländern, sich den Verträgen und Abkommen anzupassen. Der Ausbau ihrer Außengrenzen wird dann von der EU mit Millionen gesponsert und erst, wenn die HighTech-Maßnahmen funktionieren und das Grenzsicherungspersonal vorhanden ist, steht der Öffnung der Grenzen dieser Länder zur Europäischen Union nichts mehr im Wege.

Der Einflussbereich und die Maßnahmen der EU reichen weit über Europas Grenzen hinaus. Da gibt es Rückübernahmeabkommen einzelner EU-Länder, um Flüchtlinge schneller zurückschieben zu können. In der Folge dieser Abkommen werden viele Geschichten bekannt, wo Flüchtlinge in die Wüste gekarrt, ausgesetzt und sich selbst überlassen werden (Italien-Libyen, Spanien-Marokko). Da gibt es von der EU installierte Konferenzen afrikanischer Länder, damit diese ihre Grenzen innerhalb des Kontinents für MigrantInnen schließen – Europa gibt viel Geld aus, um deren Grenzen militärisch auszubauen. Da wird die europäische Grenzagentur FRONTEX entwickelt, die mit ihren Kriegsschiffen die Fluchtwege über die Meere kontrolliert und die Flüchtlingsboote zurückdrängt, weshalb immer gefährlichere Wege ausprobiert werden müssen. Und da gibt es enge Zusammenarbeit von europäischem Militär und Polizei mit totalitären und desolaten Staaten, um Flüchtlingslager außerhalb Europas einzurichten.

Zu diesem Thema nur eine Zahl, die die Ausmaße der Festung Europas deutlich macht: von 1988 bis 2007 wurden an den europäischen Grenzen mindestens 12.180 tote und vermisste MigrantInnen gezählt. Die Dunkelziffer wird - anbetracht der Schwierigkeit der Zählungen - deutlich höher sein.**
Antirassistische Initiative - DokumentationsStelle im Juni 2008

 

Bundesweite Demonstration in Berlin
am 5. Juli 2008 um 14 Uhr Schlossplatz (Berlin Mitte)

Der 15. Jahrestag der Grundgesetzänderung ist deshalb ein Anlass, unsere Forderungen lautstark auf die Straße zu bringen. Wir leben im Herzen der Festung Europa und es reicht längst nicht mehr, das deutsche Grundrecht auf Asyl zurückzufordern. Alle Menschen müssen die Möglichkeit haben, vor Verfolgung und Armut zu fliehen. Alle Menschen müssen die Möglichkeit haben, dort zu leben, wo sie es möchten und wie sie möchten. Mit allen Rechten, die dazugehören.

Für ein globales Recht auf Migration – Solidarität ohne Grenzen
gegen Rassismus, soziale Ausgrenzung und Überwachungsstaat