Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 2 / 1204b
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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Strohhalm

 

Diese Geschichte ist Andrew Harvey gewidmet, einem Mann, den ich nicht kenne. Und das kam so: Als ich gegen Mittag das BEACH RESORT-Restaurant betrat, lachte der Ober: "Wie immer ein Omelett und eine Kanne Kaffee, Sir?" Ich bejahte, und er fragte: "Sie sind bereits einen Monat hier, nicht wahr?"
"Ist das ungewöhnlich?"
"Die Cottages sind gut belegt, aber die meisten Gäste bleiben nur eine Nacht."
"Nur für eine Nacht?"
"Ja! Nur Mister Harvey, ein Franzose, kommt jedes Jahr für vier Monate zu uns. Er nimmt immer das gleiche Cottage am Strand und schreibt dort seine berühmten Romane. Sie müssen ihn unbedingt lesen."
"Dem Namen nach scheint er Engländer zu sein!"
"Ja, Sir, er ist Engländer, aber er lebt in Frankreich."
Ich frühstückte und ging in mein Cottage zurück. Ich trat auf den Balkon und schaute mit den Augen des neu angekommenen Gastes namens Harvey auf die schäumende Brandung. Einen Monat lang hatte ich das Meer mit immer finster werdender Miene betrachtet und mit der immer bohrenden Frage im Hinterkopf: Was willst du hier? Einen Monat lang hatte ich versucht, dieser Frage aus dem Weg zu gehen. Aber an diesem Morgen hatte ich kurz entschlossen meine Reisetasche gepackt.
Andrew Harvey schaute nach getaner Arbeit zufrieden auf die im gleichen Rhythmus an den Strand rollenden Wellen. Das tat er volle vier Monate im Jahr. Ich ging ins Zimmer zurück und packte meine Tasche wieder aus. Ich nahm Kladde und Kugelschreiber zur Hand und schrieb die Geschichte von Ranjit und dem HARITAGIRI HOTEL statt meine Abreise-Formalitäten zu regeln.
Ein Literaturkritiker würde meine Handlungsweise tadeln: "Wäre er besser nicht mit der Existenz eines Mister Harvey konfrontiert worden!" Ich gab der spitzen Zunge recht. Aber ich kann nun einmal nicht reisen ohne zu schreiben. Harvey reichte mir einen Strohhalm, den ich ergriff und der mich einen Tag lang über Wasser hielt. Ich verneige mich vor Harvey, den man sogar in Indien liest und verspreche allen bestürzten Kritikern, nichts von dem zu veröffentlichen, was ich in den letzten zehn Jahren geschrieben habe.

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