Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 2 / 1203r
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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1203r

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Heiliger Brauch

 

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Während meines ersten Indienaufenthalts lud mich ein Bürovorsteher zu einer Tasse Tee ein. Das geschah in Jodhpur, Rajasthan im Büro der dortigen Steuerbehörde. Die verstaubten Akten stapelten sich zu großen Bündeln verschnürt auf Tisch und Boden - für alle Zeit erledigt oder unerledigt? - allein die Hindugötter mochten es wissen. Das heilige Teezeremoniell hat bei den Staatsbediensteten absoluten Vorrang, mag auch die Welt in ihren Grundfesten erschüttert werden. Ist das eine Übernahme alter englischer Lebensgewohnheiten, oder ist es umgekehrt: haben gar die Engländer?...
Ich schlürfte den süßen Tee im Kreis der lächelnden Steuereinzieher, und der Bürovorsteher fragte mich nach meinen Eindrücken von Indien und seinen Menschen. "Lassen Sie sich nicht von Zeitungsmeldungen irritieren!", warnte er, "Indien ist ein tolerantes und gastfreundliches Land. Unterschiedliche Glaubensformen leben friedlich nebeneinander und die vielen indischen Völker mit ihren unterschiedlichen Sprachen, Sitten und Bräuchen. Bedenken Sie: es gibt fünfzig Landessprachen! Kerala, der Staat im Süden Indiens ist eine ganz andere Welt als unser Rajasthan im Nordwesten des Landes. Auch die Natur ist unterschiedlich: in Kerala finden Sie grünes, fruchtbares Palmenland, hier in Rajasthan karge Steppe und Wüste und in nördlichen Himachal Pradesh Hochgebirge mit ewigem Eis und Schnee. Und doch fühlen sich alle Menschen als Inder. Das Ayodhya-Tempelproblem zwischen Moslems und Hindus wird von einigen Parteien, die vor der Wahl Stimmen sammeln wollen, in der Presse hochgespielt. Es ist nur ein Politikum, glauben Sie mir, und nicht mehr."

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Soviel über meinen Besuch bei der Steuerbehörde in Jodhpur. Zwei Jahre später während meiner zweiten Indienreise, begann dieses "Politikum" den Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern. Das vormals lokale Ayodhya-Tempelproblem war zu einem gesamtindischen Problem angewachsen. Der Aufstand der Armen in Bombays Slums erschreckte ganz Indien. "Burning Bombay!" schrieben die Zeitungen auf ihren Titelblättern. Fünfhundert Menschen starben während des Aufruhrs, und viele Häuser brannten. Es war die größte Revolte in Bombay seit langen Jahrzehnten und ein Fanal der Erhebung nicht etwa der Besitzlosen gegen die Reichen, sondern der Hindus gegen die Moslems.
Man mußte nun um die Zukunft des indischen Staatenbundes bangen. Die Abspaltung Pakistans und Bangladeschs war noch nicht vergessen Führerpersönlichkeiten der ersten Stunde wie Mahatma Gandhi oder Neru fehlten heute in der Politik. Noch Indira Gandhi und ihr Sohn Rajiv hatten die Kraft zur Integration besessen, obwohl die Gandhi-Familie - wie man behauptet - korrupt war, sich schamlos bereicherte und großen Reichtum anhäufte. Aber sie war und ist populär, vom Volk anerkannt, ja, von vielen Indern verehrt. Die einfachen Gedenkstätten an den Straßen Keralas, die an den Mord an Rajiv Gandhi erinnern, zeugen davon. [...]

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