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Der Rikschafahrer hatte mir das HOTEL MAYURA empfohlen: "Ein
neu eröffnetes Hotel, Sir!" Das sind die Worte, die ein
müder Wanderer auf seinem beschwerlichen Weg gern hört:
ein neu erbautes Hotel in einem verlorenen Städtchen, einer verschlafenen
Provinzstadt, die diesmal Chidambaram hieß.
Von außen machte das MAYURA mit seiner glänzenden Klinkerfassade
durchaus den Eindruck eines Zwei Sterne-Hotels. Zwei kleine Palmen
standen davor, und auch der gewohnte livrierte Türsteher vor
dem Portal fehlte nicht, und das ist mehr, als man auf einer langen
Reise erwarten kann.
Ein M.O.H. Farook, so die in Stein gemeißelte Inschrift auf
der Tafel neben dem Hoteleingang, hatte das Haus am 18. August 1991
im Beisein vieler Honoratioren eröffnet mit Dankesworten an
den Architekten und die Bauherren: hiermit sei ein weiterer Meilenstein
gesetzt in der touristischen Entwicklung Tamil Nadus und der bedeutenden
Stadt Chidambaram.
Doch einmal mehr hatte man nach dem Muster Potemkinscher Dörfer
gebaut: Die glatte neue Fassade trog. Hinter ihr gähnte die Leere.
Das vierstöckige MAYURA endete in der ersten Etage. Die oberen
Etagen waren, wie auch in anderen Hotelneubauten dieser Region, nicht
fer-tiggestellt.
Sofort nach dem Bau setzt sich die Vergänglichkeit in den Räumen
fest, beginnt der Zahn der Zeit unerbittlich an Mauerwerk und Mobiliar
zu nagen, an allem, was fest und auch beweglich ist. Sofort beginnen
die Tropen, diesen im Augenblick verlorenen Raum geduldig für
sich zu-rückzuerobern gleich dem Dschungel, der - sobald der
Mensch ein Stück Urwald gerodet hat - sofort von allen Seiten
mit tausend Armen beginnt, dieses Stückchen Erde erneut mit dem
Mantel der Zeitlosigkeit zu bedecken, alles zu überwuchern, jede
Erinnerung unter Lianen, Schlinggewächsen und Farnen für
immer zu begraben.
Der abgetretene rote Läufer im Flur wies Zeichen der Vergänglichkeit
auf: große, mit groben Stichen geflickte Löcher und Risse
ergaben schmutzige, braune Flecken, und in der ersten Etage fehlte
der Läufer ganz. Auf dem Flur hämmerten Hausboys an ramponierten
Bettgestellen herum, versuchten sie zu reparieren, waren beim Anstreichen.
In meinem Zimmer, am Ende des langen Ganges, holte die harte Wirklichkeit
weltentlegener Provinz mich endgültig ein: Die Zwischenwand zum
Duschraum war feucht, verspakt und schwarz. Ein Fenster ließ
sich nicht öffnen. Im Bad fehlte eine Scheibe. Drei große
Kakerlaken hatten es sich auf dem breiten Bett bequem gemacht, und
zwei Wandlampen hatten den Geist aufgegeben. Das ist der obligatorische
Ablaß, den der Reisende in jeder Absteige zu zahlen hat. Unter
dem Zimmerfenster, in geringem Abstand - so daß man ohne Schwierigkeiten
von dort ans Fenster und ins Zimmer gelangen konnte - wölbte
sich das Wellblechdach der Hotelküche und Abwasch im Parterre.
Der vordere Teil des Dachs neigte sich leicht nach rechts, der hintere
nach links, so daß als Ganzes ein gewisses Gleichgewicht gewahrt
blieb, eine optische Spannung, die das Auge erfreute. Alte Kartons
und leere Zigarettenschachteln lagen auf dem Dach. Niedrige Palmen
an der Seite des Hauses und das einfache Strohdach einer kleinen Hütte
vis-à-vis hellten das triste Ambiente auf und rundeten den
Blick aus dem Fenster etwas versöhnlicher ab. Helles Scheppern
von Geschirr und das Klappern von Bestecken drang fortwährend
aus der Küche herauf, und der unerträgliche Gestank von
abgestandenem, kaltem Bratfett drang ins Zimmer.
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Ich betone noch einmal - und das ist in dieser Geschichte von Belang
-: jeder konnte, wenn er wollte, auf das Wellblechdach klettern und
versuchen, von dort in mein Zimmer zu gelangen. Die Fenster waren
allerdings, wie es in indischen Hotels üblich ist, vergittert.
Der Reisende weiß nie: ist der böse Eindringling ausgesperrt,
oder ist der einsame Gast lebenslänglich hinter dicken Eisenstäben
gefangen? Ich prüfte sorgfältig die Gitter und rüttelte
daran: sie waren fest. Also öffnete ich auch die anderen Glasfenster
weit, um die muffige Zimmerluft durch abgestandenen Bratendunst zu
ersetzen. Der Raum war seit einer Ewigkeit nicht gelüftet worden,
und am nächsten Morgen sollte ich erfahren, weshalb das nicht
geschehen war.
Vorn, in den beiden Vegetable- und Non-Vegetable-Restaurants, trugen
die Kellner weiße Oberhemden mit schwarzer Fliege und bedienten
mit gewinnendem Lächeln. Am Ende des Hotels, unter meinem Zimmer,
brieten und kochten die Boys mit müden Gesichtern, bekleidet
mit schmutzigen Lunghis. Mit nacktem, braunem, schweißnassem
Oberkörper standen sie im dunklen Küchenraum an offenen
Feuerstellen - wie man es seit fünftausend Jahren tut. Und der
dunkle, von den aufflackernden Flammen immer wieder für einen
Moment gespenstisch erhellte Raum weckte Erinnerungen an Hauff'sche
Märchen, an alte verräucherte Räuberhöhlen im
Spessart und Odenwald.
Als ich später in die Stadt ging, ließ ich die Fenster
weit offen. Gewöhnlich schließe ich sie, wenn ich das Zimmer
verlasse. und das ist richtig und soll künftig so bleiben. Die
"Kakkas", diese häßlichen großen Krähen,
sind diebische Vögel. Sie kommen ins Zimmer gehüpft und
schleppen davon, was sie mit Krallen und scharfem Schnabel greifen
können. Meine Reisetasche war jedoch verschlossen, Geld und
Ausweis trug ich immer bei mir, und so konnte mir von dieser Seite
nichts passieren. Und nicht einmal ein Baby konnte sich durch das
enge Gitter zwängen.
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Glauben Sie, daß ich wegen einiger streunenden Kater oder eines
lahmenden Hofhundes ein Fenster schließe, daß ich etwa
ein Hasenfuß bin? Ach, ich erzähle diese Geschichte mit
einem weinenden und einem lachenden Auge. Weinend deshalb, weil das
Denken - auf langen Reisen erprobt - immer wieder dann versagt, wenn
man es nicht erwartet, und alle Routine, alles Sicherheitsdenken
von Fall zu Fall nicht weiterhilft. Weil jedes Mißtrauen, alle
Vorsicht, einen wesentlichen Unsicherheitsfaktor beim Überlegen
einfach übersieht - wo im eng geflochtenen Sicherheitsnetz ein
Loch vorhanden ist, ein kleiner Riß, den man zu spät bemerkt,
und der dann heikle Folgen hat.
Lachend deshalb, weil ich auf eine liebenswürdige Weise ausgetrickst
wurde, und dieses Einzehntelprozent der Unsicherheit im Denken und
Vorbeugen gegen Verlust oder Diebstahl einmal mehr entscheidend war.
Nobody is perfect! Auch auf Reisen mag diese Erkenntnis sich manchmal
als folgenschwer erweisen.
Im Nachhinein schulde ich meinen ungeladenen Gästen innigen Dank.
Wie sonst hätte ich den totalen Flop meines Denkens auch mit
einem lachenden Auge zur Kenntnis nehmen können, meine fehlende
Klarsicht in kritischer Situation, die mangelnde Absicherung gegen
Un-vorhergesehenes? Dank und Halleluja meinen ungebetenen, nichtsdestoweniger
importanten Gästen - grauhaarig wie ich, gewiß, aber noch
nicht so sehr auf dem Alterstrip, sondern, sich unbedenklich im Glanze
ihrer reiferen Jugend sonnend, sprunglebendig in der wahrsten Bedeutung
des Wortes. Ein Stein kann eine Welt ins Rollen bringen - rolling
stones gather no moss! - weshalb ich meine Gäste ohne gezogenen
Colt empfing - sie, die die Steine meines Vorsichtsdenkens ins Rollen
brachten, damit es kein Moos ansetzt - zumal sie schon auf mich warteten,
als ich mein Zimmer betrat. Die mein Denken ad absurdum führten
und mich in einem schlechten Licht erscheinen ließen: den kleinmütigen,
auf Sicherheit bedachten, zum Sicherheitsdenken erzogenen christlichen
Wohlstandsbürger.
Sie waren bereits da, bevor ich kam, und eigentlich hätten sie
mich gebührend empfangen müssen. Aber soweit ist sie noch
nicht fortgeschritten - diese uns fremde Welt. Shiva sei Dank! Aber
vielleicht kommt einmal der Tag, an dem sie uns mit entsicherter Flinte
erwartet wie die Hasen den Jäger in Hoffmanns bekannten "Struwwelpeter"-Bilderbuch.
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Als ich am Abend aus der Stadt zurückkehrte und mein Zimmer betrat
und das Licht einschaltete, blieb ich verblüfft auf der Türschwelle
stehen: Große, schwarze Spuren verliefen kreuz und quer auf
dem weißen Bettuch wie geheimnisvolle Pfade der Wildnis im ewigen
Schnee. Recht gewichtige Tiere waren es gewesen, die ihre schmutzigen
Pfoten tief in das saubere Bett gedrückt hatten. Vor allem das
Kopfkissen war verdreckt. Da schienen einige Kater oder Hundeherren
sich mit ihren Damen ein nettes Schäferstündchen auf meinem
Bett gegönnt zu haben. Schnell schaute ich mich im Zimmer um.
Aber ich hatte gut vorgesorgt: alle Reise-Utensilien befanden sich
noch in der dunklen Reisetasche.
Zwei Katzen jagten jaulend und sich balgend über das Wellblechdach.
Die Katze auf dem heißen Blechdach! dachte ich und erinnerte
mich an Arthur Millers gleichnamiges Bühnenstück, und mir
fiel im Moment gar nicht auf, daß die Abdrücke auf dem
Bett für Katzen ungewöhnlich groß waren. So arbeitet
unser von Gewohnheiten träger und falschen Erfahrungen irregeleiteter
Verstand. Er registriert genau einen Tatbestand, ist jedoch nicht
immer fähig, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Nach
einer Weile erst meldet sich das kritische Denken, schüttelt
man erstaunt den Kopf: Fatal! Wie konnte ich das nur übersehen?
Dann ist es in der Regel zu spät.
Ich rief den Zimmerboy und ließ das Kopfkissen neu beziehen.
An diesem Abend verschloß ich alle Fenster. Der müde Gast
braucht seine Ruhe. Hinzu kommt der Argwohn, ein Dieb möge sich
wie der böse Geist in der Flasche in flüchtigen Rauch verwandeln
und durch die Gitterstäbe des offenen Fensters in mein Zimmer
schweben.
Ich steckte OHROPAX in meine Ohren und packte den Lederbeutel mit
den Schecks und Ausweisen wie gewohnt unter das Kopfkissen und legte
mich schlafen. Alle Vorsichtsmaßnahmen sind im Laufe der Reisejahre
zu Routinehandlungen geworden, die das Gedächtnis nicht mehr
belasten - vollzogen ohne Einsatz des wachsamen, vorsorgenden Denkens.
Routine und Gewohnheitsakte. So muß es sein, so spart man die
Kraft, die man in kritischen Augenblicken braucht. Kein "Wo?",
kein ratloses "hier-oder-da?" mit dem verunsichernden Fragezeichen,
kein verzweifeltes Suchen, sondern "da!", weil immer da!
Nur so kommt man in fremden Welten ungeschoren über die Runden,
kann man sich ohne unnötige Belastung der grauen Zellen dem Wesentlichem
widmen: der Suche nach einem gut gekühlten GOLDEN EAGLE BEER
etwa oder einem abgelagerten OLK MONK RUM von guter Qualität.
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Kein kluger Zivilisationsmensch überspielt die Möglichkeiten
seiner Klaviatur. Zivilisationsmensch sein bedeutet Kräfteökonomie,
Ausrichtung des Verstandes einzig und allein auf Erringen und Absichern
seines Besitzes, auf den Profit - heißt die Trägheit des
Denkens nur einmal im Leben zu überwinden, um sich mit einem
einzigen Kraftakt seinen Besitz zu ergattern und sich dann für
den Rest des Lebens zur Ruhe zu legen in allen weichen Pfühlen
dieser Welt unter Palmen und mit der lustvollen Beschäftigung:
dem aufregenden Flirt mit dem Tod.
Kein Wachmann kann besser wachen als der wache Verstand des Habgierigen.
Kein watchman besitzt den Spürsinn des verwahrenden, sich total
absichernden Christeuropäers. Hatte ich diese Prüfung bereits
bestanden? War ich letztlich jener Zivilisationsmensch, der alles
reduzieren kann auf das Pünktchen auf dem "i" - auf
des "Pudels Kern"? Der alte Alec Guinness hat es im Film
vorgemacht.
Aber gegen Überraschungen auf Reisen war ich immer noch nicht
gefeit - gegen diese Wechselfälle, die schrulligen Launen des
Schicksals, den festen Schlag auf den Hinterkopf, wenn man es am wenigsten
erwartet. Und man kann von Glück sagen, wenn es nur der Rüssel
eines heiligen Tempelelefanten ist, sein freundlicher Begrüßungsschlag.
Und dann die bösen Überraschungen zu früher Morgenstund',
wenn das Licht in den Tropen am klarsten ist und die Sinne vom abendlichen
kühlen Lagerbier am stärksten getrübt. Das ist der
Einbruch, der Knockout aller auf eine Krise vorsorglich abgesicherten
Sinne, der K.O., der den verkaterten Reisenden wehrlos in den Ringstaub
wirft.
Kurz: Ich verlor das Vertrauen in mein Denken. Hinterher kam ich mir
wie die seelenlose Software eines Computer-Schachprogramms vor, die
allein auf jene Züge des Spielers vorbereitet ist, die programmiert
sind. Wie kalt ist das Denken im unmenschlichen Niemandsland! Niemand
stößt ins Horn, greift zur Fanfare. Übersichtlich
und kontrollierbar ist alles bis ans Ende des vom Bewußtsein
gewährten Sehkreises. Erst hinter dem Horizont des Denkens beginnt
die "Terra incognita", bleibt der Mensch mit seinen Instinkten
abenteuerlich allein. Gibt es bereits die Software als Denkersatz:
"Wie schütze ich mich auf Reisen durch unbekannte Welten
vor Diebstahl und Verlust? Mit den tausend Varianten eines möglichen
Delikts?": Was ich zu beachten und nicht zu beachten habe. Das
Programm mit allen Physiognomien des Hotelpersonals, der Mimik und
Gestik der Angestellten, ihren Erregungszuständen, den Exaltationen,
Ein- und Ausbrüchen, den Facetten, allen Un-Wahrscheinlichkeiten,
Blackouts, Eisprüngen und immer drohenden Mondwechseln - auf
sie muß man besonders achten -, der Bedeutung von Zahnbürsten?
Sie spielen in diesem Drama eine bedeutende Rolle, auch Zahnpastatuben,
Geld und weiteres Zubehör.
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Alles war wie gewohnt, als ich am nächsten Morgen erwachte. Die
Sonne schien, draußen zirpten die Vögel, mein Geldbeutel
zwitscherte lustig unter dem Kopfkissen. Er war also noch da und nicht
etwa ausgeflogen. Ich öffnete schlaftrunken die Fenster und unterließ
es, den Geldbeutel wie gewohnt in der Reisetasche zu verstauen und
begab mich sofort unter die kalte Dusche.
Tatsache ist, daß ich einige Zeit für die Morgentoilette
brauchte, mich rasierte und mir zur Abwechslung wieder einmal die
Fingernägel schnitt. Alles danach ist einzig blankes Staunen.
Denn als ich mein Zimmer wieder betreten wollte, blieb ich wie vom
Donner gerührt auf der Türschwelle stehen: Vier stattliche
Burschen, voll ausgewachsen, grau in grau, zottig - wie es sich gehört
-, schauten mich mit blanken Augen unschuldig von meiner Bettstatt
an. Auf meinem geheiligten Kopfkissen hockten sie, die Affenwesen,
mit ihren langen, buschigen Schwänzen, die Country Monkeys, wie
die Tamil Nadu-Menschen sie mangels präziser Begriffsbestimmung
nennen.
Unter buschigen Augenbrauen schauten sie mich abwartend mit freundlichem
Augenzwinkern an. Das kann das Herz eines einsamen Reisenden durchaus
rühren. Wissen Sie um die Einsamkeit eines Langstreckenläufers?
In solchen besonderen Momenten bin ich beeinflußbar, ja formbar,
ich akzeptiere alles, wie es ist, und ich lasse mich auf jeden Schwindel
ein.
Auch, daß der Stattlichste der vier, er saß mir am nächsten,
meine Zahnbürste in der Hand hielt und daran herumfingerte, registrierte
ich mit Wohlwollen. Die Zahnpastatube hielt er nicht beachtend in
der anderen Hand. Er schien meine Vorliebe für diese Sorte nicht
zu teilen. Sein Kumpan zur Rechten übte sich offensichtlich in
Fremdsprachen: mit nachdenklich gerunzelter Stirn versuchte er, die
Inschrift auf der Verpackung zu entziffern. COLGATE war in großen
Lettern weiß in rot gedruckt.
Der dritte im Bunde schaute mich, da im Augenblick unbeschäftigt,
erwartungsvoll an. Einmal mehr übermannten mich die Schuldgefühle
schon früh am Morgen: erwartete er von mir, daß ich den
Zimmerkellner rief und ein deftiges Affenmenü für die Herren
bestellte nach ihrer Wahl? Immer und überall und bereits am frühen
Morgen verderben die Schuldgefühle mir Christmenschen den Appetit
auch auf das bescheidenste Frühstück, den billigsten ungesüßten
Morgentee.
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Staunend stand ich da, das Gewohnheitsdenken hatte mich schnöde
im Stich gelassen. Da fiel mir der vierte im Bunde ins Auge, den ich
noch gar nicht beachtet hatte. Er saß als Wächter in eigener
Sache auf dem Fensterbrett, schützte auch seine Kumpane gegen
mögliche Überraschungen von außen. Mich schien er
zu ignorieren. Das allerdings verletzte mich. In der Hand hielt er
ein braunes Etwas, ein Diebesgut, und plötzlich blitzte eine
schreckliche Ahnung in mir auf, und es überlief mich heiß
und kalt: war das etwa mein Geldbeutel? "What about my money?"
schrie ich erschrocken und schlug die Hände über den Kopf
zusammen. Auch der zottige Bursche schien nicht frei von Schuldgefühlen
zu sein - sie haben bereits die Tierwelt erfaßt -, denn er blinzelte
mit den Augen und schwang sich, mit der rechten Hand das Gitter greifend,
elegant zum Fenster hinaus, das Diebesgut in seiner Linken.
Weg war er, und damit auch der Beutel! Ihn hatte ich mit Ausweis,
Schecks und Flugtickets am letzten Abend unter dem Kopfkissen deponiert,
auf dem noch immer meine drei Freunde ruhig saßen. Die eilige
Flucht ihres Kumpan schien sie nicht sonderlich zu berühren.
"Away! Away!" brüllte ich und stürzte armefuchtelnd
auf sie zu, und die drei, ungläubig erstaunt, aufgeschreckt
aus ihrem trauten Techtelmechtel, schwangen sich schwerfällig
und ohne besondere Eile auf das Fensterbrett und durch das enge Eisengitter
- Zahnbürste, Pasta und Tube als Skalp in den Händen.
Ich sprang zum Bett und riß das Kopfkissen zur Seite: der Geldbeutel
war weg! Das war die Katastrophe, das war das Loch in meinem Sicherheitsnetz,
das war die Quittung, war die Schwachstelle in meinem Sicherheitsdenken.
Nein! Da lag er, halb unter das Bettuch geschoben. Aufatmend riß
ich den Beutel an mich und stürzte zum Fenster: "Ihr Gauner,
ihr Burschen, ihr Diebeskünstler - zum Teufel mit euch!"
Ich reckte die Faust und drohte und fuchtelte mit dem Zeigefinger
wie ein gelackmeierter Schulmeister.
Denn der Stattlichste der vier saß in sicherer Entfernung von
meinem Fenster auf dem Wellblechdach. Die anderen hatten sich in
die Palmen geschwungen und schauten neugierig zu mir herüber.
Aufgeregt schwang er die blutrote Verpackung mit dem weiß gedruckten
COLGATE, und für einen Moment war er der Revolutionär, der
Aufständische aus dem Busch, der im Triumph des Augenblicks die
rote Fahne der Rebellion schwenkt: Auf, auf! Zeigen wir es dieser
Langnase, diesem programmierten Sicherheitsmenschen, diesem weißen
Lackaffen! Vertreiben wir ihn aus unserer Welt!
Er blinzelte mir aus der sicheren Entfernung zu. Ja, er schien zu
schmunzeln, und plötzlich schien es mir, als wollte er sagen:
"Eigentlich bist du doch ein verhinderter Rebell, bist einer
von uns! Komm zurück zur Natur, Alter!" Und wieder schwenkte
er aufgeregt die rote COLGATE-Packung hin und her, und wieder leuchtete
sie in der Morgensonne blutig wie die Fahne der Weltrevolution: Auf
die Barrikaden, Genossen! Und erst, als ich ein zweites Mal: "Away!"
brüllte, schwang er sich mit einer Behendigkeit, die mich bei
diesem gewichtigen Burschen immer wieder überrascht und die alle
Gesetze der Schwerkraft zu ignorieren scheint, in die nächste
Palme und zum Nebendach. Seine Kumpane folgten ihm und schwangen sich
elegant von Ast zu Ast, bis sie meinen Blicken entschwanden, wobei
der eine mit der gestohlenen Bürste nebenbei seine Zähne
putzte.
Ich hatte meine Lektion gelernt. War ich der Weisheit des Affenkönigs
Hanuman näher gekommen? Ich warf mich aufs Bett und lachte hysterisch.
Diese stattlichen Burschen, voll ausgewachsen, mit ihren langen,
buschigen Schwänzen hatten am Abend zuvor auf meinem Bett ihr
Schäferstündchen gehalten - "frech wie Oskar",
wie Affen nun einmal sind. Diese zottigen Spitzbuben! dachte ich verblüfft.
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Als ich einige Wochen später auf meinem Rückweg erneut ein
Zimmer im MAYURA nahm, hatte die Rückeroberung des Hauses durch
die Natur sichtbare Fortschritte gemacht: Alles war einen Deut mehr
heruntergekommen. Diesmal studierte ich in Ruhe die Anweisungen des
Hauses - To our residents!. Ganz am Ende, unter general, las ich:
"Beware of monkeys! Please close all windows & doors when
you leave the room!" Sie, die Affen, bedeuteten in dieser entlegenen
Provinz das Problem, waren die Bösemänner, die frechen Oskars,
und nicht etwa Pistolen tragende Ganoven aus der Unterwelt. Das sprach
Bände, sprach für den Frieden in dieser Region, aber auch
für die immer noch ungebrochene Kraft der Natur.
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