Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 2 / 1203o
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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1203o

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Wir sind arm

 

1
"Wir sind arm" sagte Sheeja. Wir saßen auf der Bank vor ihrem Elternhaus. Die steinerne Bank war vom vielen Sitzen glatt gerieben, das Gemäuer vom Zahn der Zeit angenagt, die Farben an den Wänden waren verblichen. Aber noch war der alte Bungalow stabil. Eine Weile noch mochte er dem herben Bergklima und den heftigen Monsungüssen trotzen. Es gab kein elektrisches Licht. Der Reis für die tägliche Mahlzeit wurde mit dem Mörser zerstampft, die Chapatis im Sommer auf dem Holzfeuer vor dem Haus gebacken. Selten gab es ein Ei. Fleisch gab es nie. Die Kuh unter dem Palmblätterdach vor dem Haus gab die tägliche Milch, aber man wurde ein Leben lang nicht richtig satt. Die Beine der Mädchen waren dünn, und das trockne Husten der jungen Schwester klang kraftlos und matt.
2
"Unsere Familie ist arm!" Die Freundin sah mich von der Seite an. Ich sagte: "Ja", und wie aus Versehen berührten sich unsere Hände. Vor dem Haus führte der breite Schotterweg vorbei, der aus den Bananenfeldern kam. Arceanut- und Kokospalmen säumten ihn. Er führte durch die Kaffeeplantagen den Hügel hinauf und verschwand oben im dichten Grün der Kaffeebäume und zwischen den glatten, hohen Stämmen, an denen der grüne Pfeffer rankte.
Auf dem Vorplatz trocknete auf alten Jutesäcken der gepflückte Pfeffer und nahm langsam das vertraute Schwarz an. Das Haus lag inmitten junger, frisch bewässerter Bananenpflanzungen. Es schwamm in einem Meer sich im Nachmittagswind sanft wiegender Blätter. Sie leuchteten in der tiefstehenden Sonne wie mit brennendem Öl übergossen.
Kein Auto fuhr auf dem Weg vorbei, selten einmal ein Scooter, ein dreirädriges Motortaxi, das Landleute vom Einkauf im Ort zurück in ihre Siedlungen brachte. Die reine klare Bergluft war Balsam für eine von den Giften der technischen Zivilisation zerfressene Lunge. Ich sog sie tief und gierig ein, meine Brust weitete sich, und ich fühlte neue Kraft in mir.
Hirten trieben Ziegen und Rinder von den abgeernteten Reisfeldern in die Ställe: die lachenden Hindus und die ernsten Moslems, die auch am Abend ihre weißen Moslem-Käppchen trugen. Die bunten, hochgebundenen Lunghis leuchteten im klaren Schein der untergehenden Sonne.
Vor dem Haus zogen sich die jungen Reisfelder bis zu den fernen Bergen hin, die das fruchtbare Tal begrenzten. Die Bäche bahnten sich ungestüm ihren Weg ins Tal. Ihr Wasser wurde durch die jungen Reisfelder geleitet. Der Mango blühte verschwenderisch wie feines, duftendes Gespinst in zarten Farben - ein farbiger Nebel, gewoben von vielen fleißigen Geistern, zart gewebt wie edle Seide.
Frauen in bunten Saris standen bis zu den Knien im Wasser und versetzten den jungen Reis. Sie bildeten leuchtend rote Kontrapunkte im saftigen Grün der Felder - hingetupft mit den Farben von der Palette des großen Meisters.
Wir saßen schweigend vor dem Haus. Die Sonne war hinter den Bergen versunken, und der Abendhimmel begann zu leuchten. Ein letztes warmes Licht übergoß das Land und tauchte uns in ein tiefes, sattes Braun.
"Wir sind arm!" sagte Sheeja.

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