Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 2 / 1203j
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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"Komplexes Zusammenspiel"

 

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Ich beschloß, ein Paket grüner CHANDRIKA AYURVEDIC-Seife mit nach Deutschland zu nehmen. Hat der Name dieser Seife einen Bezug zur ayurvedischen Lehre? Ayurveda bedeutet: "das Wissen vom Leben", oder "Wissenschaft vom langen Leben" - das heißt ein Weg in der indischen Medizin, eine Behandlungsform, bei der versucht wird, Krankheiten als Störungen im komplexen Zusammenspiel der Lebenskräfte des Menschen zu erkennen und zu behandeln. Soap prepared from genuine herbal extracts and high quality vegetable oils, free from animal fat.
Ich bangte um "das komplexe Zusammenspiel" meiner Lebenskräfte in Europa und kaufte mir die grüne CHANDRIKA. Ich schätze den weichen, weißen Seifenschaum und wollte in Deutschland nicht darauf verzichten - zumindest nicht in der ersten Zeit nach meiner Rückkehr. Für einige Wochen wollte ich mir mit dieser wohlriechenden Seife das ganze Gewäsch einer mir zutiefst zuwideren Gesellschaft vom Körper waschen, dieses Geseibel von SOZIAL, von SOZIALEM WOHNUNGSBAU, der mir die besten Jahre meines Lebens vergällt hat, von SOZIALER Marktwirtschaft, die mich in den wirtschaftlichen Ruin trieb, von SOZIAL-demokratischem Parteigezeter, wollte mir die ganze CHRISTLICHE Chose und Heuchelei vom Körper schrubben, die CHRISTLICHEN Demokraten ebenso wie die CHRISTLICH Sozialen - Die CHRISTEN mit dem Kreuz des Herrn in der erhobenen Rechten, das Scheckbuch diskret in der Linken, die auf diese Weise dank der Macht des Kapitals die Dritte Welt ein zweites Mal kolonisieren. - "Diese Form der Kolonisierung durch die Trusts ist härter als jene vor zweihundert Jahren mit Kreuz und Kanonen", hatte ein indischer Verwaltungsmann geklagt.

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Ich wollte mir mit dem weichen, perlenden Schaum der indischen "Lebensseife" das falsche Lächeln meiner Bekannten vom Halse waschen, ihre Heuchelei, die die Scheinheiligkeit einer europäischen Christ-Heiligkeit weit übertrumpft, ihre "Anteilnahme" am Geschick des anderen: "Wie geht es Dir?" Wobei sie sich in aller Stille zufrieden die Hände rieben: Auch ihn hat es nun erwischt, also sind wir nicht die einzigen Verlierer!
Ich wollte mir jeden Gedanken an diese geistigen Mittelständler für immer wegwaschen, die Erinnerung an jene Menschen, die - mit dem Parteibuch der SPD heimlich in der Tasche - in jüngeren Jahren auf der Straße den Aufstand probten, "alternativ" die Grünen wählten, sich laut damit brüsteten, sich von ihrer Partei jedoch mit dem kleinen Professorentitel ködern und später ohne Gewissensbisse vereinnahmen ließen, die nun mit müdem, glanzlosem Lächeln vom Tod reden und partout sterben wollen, dabei von Monat zu Monat unruhiger werden, weil sie ahnen, daß ihnen das Leben unter den Fingern wie der Sand in der Sanduhr wegrinnt; während die Gattin geduldig auf den Tod des Gatten wartet, auf seine stattliche Professorenpension, um dann noch einmal "fest einen draufzumachen"..

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Ich wollte versuchen, die ganze Lüge einer mir verleideten Zivilisation mit indischherben Wohlgerüchen vom Leibe zu waschen. In meinem verspakten SOZIALEN Badezimmer, in dem der alte Anstrich von den Wänden abblättert, würde ich diesen ganzen Schleim abreiben, der fett und feucht alle Poren meiner gequälten Seele verstopfte, die doch atmen muß, diesen Schleim, der ein freies Atmen unmöglich machte - so wie ich mit dieser Seife in Indien die giftigen Abgase von Millionen von Bussen, Lastern und Motorrädern abgeschrubbt hatte, den grauen Nebel von Diesel und Ruß, den aufgewirbelten Staub der indischen Straßen, diesen erstickenden Gestank nach beißendem Urin und Exkrementen, die bedrückende Armut von Millionen von Menschen im Land, das entwürdigende Kastensystem des Hinduismus und die Diskriminierung der Unberührbaren, der Harijans, die Erniedrigung der indischen Frau - die ganze Traurigkeit des Menschen, seine vertane Chance auf Erden, das Dilemma der unglaubwürdig gewordenen menschlichen Existenz.
Einmal mehr war ich erstaunt, wieviel Gift der menschliche Körper verkraften kann, ehe er zusammenbricht, wieviel Leid der Mensch sich auferlegen kann, bis sein Herz bricht, wieviel Zentner Lügen die müde Seele zu ertragen vermag, ehe sie zusammenbricht unter dem Ballast der Zivilisation. Ich wollte in Hieronymus Boschs Jungbrunnen steigen und mir alles mit der CHANDRIKA vom Körper waschen, und ich wollte mich zwingen, für immer geläutert aus dem Jungbrunnen zu steigen, jungfräulich rein - bereit für einen letzten, verzweifelten Traum.

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