Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 1 / 1199r
Fotos und Texte von Otto Göpfert

Kontakt über: post@umbruch-bildarchiv.de
Zurück Home Weiter

 

1199r

1199r.jpg

 

2
Doktor Sebastians kleiner Behandlungsraum war durch einen weißen Vorhang von dem langen Korridor mit der Reihe der wartenden Patienten getrennt und von einer kleinen Tür mit der Aufschrift operation theatre. Immer wieder einmal wurde der Vorhang vorsichtig beiseite geschoben, schaute ein Patient mit leidender Miene in den Raum. Den Doktor schien dies nicht zu beirren. Ich hatte als Arzt einen "Inder" erwartet: einen Pykniker, voll, rundlich, von kleiner Statur, mit dem breiten, gutmütigen Gesicht des Menschenfreundes, wissend in seinem Hara ruhend, erfahren als Mensch und Arzt.
Aber vor mir saß ein angespannter, hagerer Mann mit dem scharfen, gut geschnittenen Profil des europäischen Intellektuellen und der Kühle seines Verstandes. Und auch der Name schien ihn als Europäer auszuweisen. War er ein angestammter Kerala-Mann, oder floß tatsächlich ein Rest portugiesischen Bluts der Kolonisatoren in seinen Adern?
"Wenn Sie Hilfe benötigen, kommen Sie ins FATIMA HOSPITAL. Es hat Tag und Nacht geöffnet. Wenn Sie möchten, besorge ich Ihnen hier im Haus ein Zimmer. Das ist billiger, als im Hotel zu wohnen."
Als ich sagte, ich wäre auf der Suche nach einem Bungalow mit einem kleinen Blumengarten, erwiderte er: "Ich besorge Ihnen ein Haus! Hier ist meine Anschrift!", und er schrieb seine Pri-vatadresse auf ein Rezeptblatt und reichte es mir. Dann fügte er hinzu: "Eine junge deutsche Ärztin hat längere Zeit bei uns gearbeitet. Sie studiert Tropenmedizin. Vor einigen Tagen ist sie nach Mysore gereist."
"Ich hätte mich gern einmal mit ihr unterhalten!" sagte ich, "kehrt sie zurück?"


"Sie hat einen Flug nach Deutschland gebucht."
Ich bedauerte es.
"Im St. Vincent Convent arbeiten zwei Krankenschwestern, die in Deutschland gelernt haben. Sie sprechen gut deutsch." Und wieder reichte er mir ein Rezeptblatt - diesmal mit den Tele-fonnummern der beiden Frauen.
Hätte ich ihn um einen Partner für meine einsamen Nächte gebeten, würde er mir seine Tochter empfohlen haben. Er würde mir alles vermitteln, was ich brauchte, und er würde zu seinem Wort stehen, davon war ich überzeugt. Aus irgendeinem geheimnisvollen Grund war das "Helfen-wollen" wie mit einem glühenden Eisen in sein Gehirn gebrannt. Das mußte irgend-wann und aus irgendeinem besonderen Anlaß geschehen sein. Oder war es allein ein "Helfen-müssen", das ihn so handeln ließ, ein kategorischer Imperativ, die unbedingte Verpflichtung zu einer sittlichen Haltung? Aber dieses Helfen berührte seine Seele nicht, ging an dem kühlen Menschen Sebastian irgendwie vorbei.
Wußte er nicht, daß nicht nur das "Was", sondern vor allem das "Wie" in einer Therapie wichtig ist? Daß ein tröstendes Wort so recht vom Herzen der leidenden Seele mehr Linderung verschafft - daß menschliches Verstehen, ein beruhigendes Schulterklopfen, mehr hilft als manche Medizin - und sei es nur für den Augenblick?
Zurück Home Weiter