Farbimpressionen aus Indien, 1991 / 1193e
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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1193e

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Seelenfrieden

 

1
Wenn ich in meinem Hotelzimmerchen saß - die Balkontür weit geöffnet - und über die Häuser von Jodhpur schaute, war die Welt in Ordnung. Ich las in Ruhe Tolstois Erzählung "Familienglück", eine der schönsten Liebesgeschichten - nein, die treffendste Erzählung über das Wesen der Liebe, die ich kenne.
Ich saß in meinem alten Sessel und hatte den zweiten OLD MONK-Flachmann geöffnet. Der betäubende Lärm auf den Straßen wurde schwächer. Die Menschen begannen sich zu beruhigen. Ein Bienenkorb mit Millionen Bienen, die summten und umherschwirrten und langsam zur Ruhe kamen und die mir in dieser Höhe im vierten Stock nichts anhaben konnten. So hoch hinauf kamen sie nicht geflogen, und so konnten sie hier nicht stechen, und ob dieser mich beruhigenden Erkenntnis gewann das Leben für mich von oben herab gesehen einen neuen Reiz, bot es eine freundliche Perspektive, sozusagen einen keimfreien Charme, zumal nach der zweiten Flasche Rum. Ich sage das ohne rot zu werden.
Die Grillen zirpten, wie kalt waren die Nächte vor drei Wochen in der Thar-Wüste gewesen. Der Nachtzug nach Jaisalmer tutete lang und ausdauernd in der Ferne. Er forderte die letzten Fahrgäste zum Einsteigen auf.


Wieder mußte ich an die entlegene Wüstenstadt denken, aber auch an Rotterdam, Hamburg, Bremen, Antwerpen und an alle Häfen in dieser Welt. Es war das "Leinen los!" der alten Salpeterklipper, der weißen Bananenschiffe, die den "Blauen Peter" gehißt hatten: "Reise, reise...!". Jedes Abfahrtssignal weckt ein sehnsüchtiges Gefühl in meiner Brust, ein Verlangen, ein Fernweh: ein Sehnen nach der Ferne - auch in der Fremde!
Der Mensch ist Nomade, ist Wanderer geblieben - ein Läufer, der laufen muß des Laufens wegen. Dieser Wandertrieb steckt tief in uns; und allen Verschüttungen durch die Zivilisation zum Trotz packen wir unseren Rucksack und rufen: "Ahoi!", mögen die Wanderer von heute ihre Abenteuer in fremden Welten nicht ohne Pancake, Porridge, Schweizer Müsli und Kartoffelpuffer bestehen. Doch bereits Jürn Jacob Sven, der Amerikafahrer, hatte im Wilden Westen den Wunsch, einmal im Leben die Füße unter den eigenen Tisch zu stellen. Ein urmenschlicher Wunsch, ein verständlicher Wunsch - vielleicht haben sich die Steinzeitmenschen bereits danach gesehnt.
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