|
1
Wenn ich in meinem Hotelzimmerchen saß - die Balkontür weit
geöffnet - und über die Häuser von Jodhpur schaute, war
die Welt in Ordnung. Ich las in Ruhe Tolstois Erzählung "Familienglück",
eine der schönsten Liebesgeschichten - nein, die treffendste Erzählung
über das Wesen der Liebe, die ich kenne.
Ich saß in meinem alten Sessel und hatte den zweiten OLD MONK-Flachmann
geöffnet. Der betäubende Lärm auf den Straßen wurde
schwächer. Die Menschen begannen sich zu beruhigen. Ein Bienenkorb
mit Millionen Bienen, die summten und umherschwirrten und langsam zur
Ruhe kamen und die mir in dieser Höhe im vierten Stock nichts anhaben
konnten. So hoch hinauf kamen sie nicht geflogen, und so konnten sie
hier nicht stechen, und ob dieser mich beruhigenden Erkenntnis gewann
das Leben für mich von oben herab gesehen einen neuen Reiz, bot
es eine freundliche Perspektive, sozusagen einen keimfreien Charme,
zumal nach der zweiten Flasche Rum. Ich sage das ohne rot zu werden.
Die Grillen zirpten, wie kalt waren die Nächte vor drei Wochen
in der Thar-Wüste gewesen. Der Nachtzug nach Jaisalmer tutete lang
und ausdauernd in der Ferne. Er forderte die letzten Fahrgäste
zum Einsteigen auf.
|
|
Wieder mußte ich an die entlegene Wüstenstadt denken, aber
auch an Rotterdam, Hamburg, Bremen, Antwerpen und an alle Häfen in
dieser Welt. Es war das "Leinen los!" der alten Salpeterklipper,
der weißen Bananenschiffe, die den "Blauen Peter" gehißt
hatten: "Reise, reise...!". Jedes Abfahrtssignal weckt ein sehnsüchtiges
Gefühl in meiner Brust, ein Verlangen, ein Fernweh: ein Sehnen nach
der Ferne - auch in der Fremde!
Der Mensch ist Nomade, ist Wanderer geblieben - ein Läufer, der laufen
muß des Laufens wegen. Dieser Wandertrieb steckt tief in uns; und
allen Verschüttungen durch die Zivilisation zum Trotz packen wir
unseren Rucksack und rufen: "Ahoi!", mögen die Wanderer
von heute ihre Abenteuer in fremden Welten nicht ohne Pancake, Porridge,
Schweizer Müsli und Kartoffelpuffer bestehen. Doch bereits Jürn
Jacob Sven, der Amerikafahrer, hatte im Wilden Westen den Wunsch, einmal
im Leben die Füße unter den eigenen Tisch zu stellen. Ein urmenschlicher
Wunsch, ein verständlicher Wunsch - vielleicht haben sich die Steinzeitmenschen
bereits danach gesehnt. |
|